Stellenkommentar GM I 12, KSA 5, S. 277 177
terschaft gehabt haben" (GM II 23, KSA 5, 333, 21-24). Entsprechend leicht fällt
die Assoziation von Europa mit „Krankenhaus[.]" und „Irrenhaus[.]" (GM III 14,
KSA 5, 368, 15-17): Das asketische Ideal, der Alkohol und die Syphilis hätten
Europa zugrunde gerichtet (GM III 21, KSA 5, 392, 18-29). Der einzige positive
Europa-Bezug in GM findet sich in einem Selbstzitat aus FW: „wir" als „gute
Europäer" sind da die „Erben von Europa's längster und tapferster Selbst-
überwindung" (GM III 27, KSA 5, 410, llf., vgl. Geuss 2019, 417 f.). Diese Selbst-
überwindung besteht darin, dass das christlich konditionierte Gewissen sich
gegen sich selbst wendet, wodurch sich die christliche Moral selbst abschafft.
Eine Zukunft gibt es für das altgewordene Europa nach dieser Diagnose also
nur, wenn es sich zu radikalem Antichristentum durchringt. Dass das so visio-
nierte Europa der Zukunft nicht kompatibel ist mit dem Sonntagsreden-Europa,
das heutige Politiker unter Berufung auf N. gerne hätten, dürfte deutlich sein
(vgl. z. B. NK KSA 5, 180, 18 und die Beiträge in Goedert/Nussbaumer-Benz
2002). Daher nimmt Skirl 2002, 35 seine Zuflucht zur radikalen Gegenthese:
„Nietzsche hatte zum Thema Europa eigentlich nichts zu sagen."
12.
Gleich zu Beginn von GM I 12 - einem den historischen Argumentationsgang
durchbrechenden Einschub - meldet sich ein „Ich" zu Wort, das sich in GM I 11
trotz „Wir"-Emphase nur bei einem Rückverweis auf ein eigenes Werk, also als
Autorsubjekt zu erkennen gegeben hat. Das „Ich" parodiert in seiner Wehklage
alttestamentliche Prophetenrede, zielt aber nicht darauf, dass die Gegenwart
ihren Gott, sondern darauf, dass sie den Menschen, den gesunden, wohlgerate-
nen, vornehmen Menschen verloren und stattdessen „etwas Missrathenes"
(277, 28) hervorgebracht habe - und die Wehklage ist überdies gepaart mit ei-
ner „letzte[n] Zuversicht" (277, 25). Das „Ich" bleibt freilich nicht das konstante
Subjekt dieses Abschnitts, sondern weicht für einige Zeilen einem „man" (277,
30), das sich ungeachtet aller zeittypischen Drangsal in einer glückhaften Un-
beugsamkeit gewiss scheint. Alsbald aber ergreift das „Ich" wieder das Wort
und adressiert im Stile des Musenanrufs in der altgriechischen Dichtung und
mit einem hypothetisierenden „gesetzt, dass es" sie „giebt", „Gönnerinnen",
„jenseits von Gut und Böse" (278, 6 f.): Sie mögen ihm doch die Aussicht auf
ein gelingendes Menschenleben, einen „erlösenden Glücksfall" eröffnen, da-
mit „man" (278, 11 f.) „den Glauben an den Menschen" nicht verliere, der bei
der in Europa um sich greifenden „Verkleinerung" (278, 14) und Nivellierung
des Menschen unter der Knute einer gleichmachenden Moral nur allzu leicht
abhanden komme. Das Abschnittende wechselt dann in die 1. Person Plural
terschaft gehabt haben" (GM II 23, KSA 5, 333, 21-24). Entsprechend leicht fällt
die Assoziation von Europa mit „Krankenhaus[.]" und „Irrenhaus[.]" (GM III 14,
KSA 5, 368, 15-17): Das asketische Ideal, der Alkohol und die Syphilis hätten
Europa zugrunde gerichtet (GM III 21, KSA 5, 392, 18-29). Der einzige positive
Europa-Bezug in GM findet sich in einem Selbstzitat aus FW: „wir" als „gute
Europäer" sind da die „Erben von Europa's längster und tapferster Selbst-
überwindung" (GM III 27, KSA 5, 410, llf., vgl. Geuss 2019, 417 f.). Diese Selbst-
überwindung besteht darin, dass das christlich konditionierte Gewissen sich
gegen sich selbst wendet, wodurch sich die christliche Moral selbst abschafft.
Eine Zukunft gibt es für das altgewordene Europa nach dieser Diagnose also
nur, wenn es sich zu radikalem Antichristentum durchringt. Dass das so visio-
nierte Europa der Zukunft nicht kompatibel ist mit dem Sonntagsreden-Europa,
das heutige Politiker unter Berufung auf N. gerne hätten, dürfte deutlich sein
(vgl. z. B. NK KSA 5, 180, 18 und die Beiträge in Goedert/Nussbaumer-Benz
2002). Daher nimmt Skirl 2002, 35 seine Zuflucht zur radikalen Gegenthese:
„Nietzsche hatte zum Thema Europa eigentlich nichts zu sagen."
12.
Gleich zu Beginn von GM I 12 - einem den historischen Argumentationsgang
durchbrechenden Einschub - meldet sich ein „Ich" zu Wort, das sich in GM I 11
trotz „Wir"-Emphase nur bei einem Rückverweis auf ein eigenes Werk, also als
Autorsubjekt zu erkennen gegeben hat. Das „Ich" parodiert in seiner Wehklage
alttestamentliche Prophetenrede, zielt aber nicht darauf, dass die Gegenwart
ihren Gott, sondern darauf, dass sie den Menschen, den gesunden, wohlgerate-
nen, vornehmen Menschen verloren und stattdessen „etwas Missrathenes"
(277, 28) hervorgebracht habe - und die Wehklage ist überdies gepaart mit ei-
ner „letzte[n] Zuversicht" (277, 25). Das „Ich" bleibt freilich nicht das konstante
Subjekt dieses Abschnitts, sondern weicht für einige Zeilen einem „man" (277,
30), das sich ungeachtet aller zeittypischen Drangsal in einer glückhaften Un-
beugsamkeit gewiss scheint. Alsbald aber ergreift das „Ich" wieder das Wort
und adressiert im Stile des Musenanrufs in der altgriechischen Dichtung und
mit einem hypothetisierenden „gesetzt, dass es" sie „giebt", „Gönnerinnen",
„jenseits von Gut und Böse" (278, 6 f.): Sie mögen ihm doch die Aussicht auf
ein gelingendes Menschenleben, einen „erlösenden Glücksfall" eröffnen, da-
mit „man" (278, 11 f.) „den Glauben an den Menschen" nicht verliere, der bei
der in Europa um sich greifenden „Verkleinerung" (278, 14) und Nivellierung
des Menschen unter der Knute einer gleichmachenden Moral nur allzu leicht
abhanden komme. Das Abschnittende wechselt dann in die 1. Person Plural