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Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 279 185

lung und einem Handelnden. Dabei handelt es sich um ganz unterschiedliche
Sachverhalte, was N. allerdings verschleiere. Im zweiten Fall, wonach es keine
Täter und nur Tun gäbe, handle es sich um eine metaphysische Behauptung,
die über die Wirklichkeit an sich Aussagen mache. Damit, so Bittners Voraus-
setzung, lässt N. das Feld der Sprachkritik hinter sich. Er behaupte, dass es
Veränderungen gebe, aber keine Personen oder Dinge, die sie bewirken; Verän-
derungen brächten Veränderungen hervor, Dinge oder Personen täten es nicht.
„It is a denial that there are any such things as things." (Ebd.) Dass die Behaup-
tung einer solchen ding- und akteurlosen Wirklichkeit eine reichlich kühne
Hypothese über die Weltbeschaffenheit darstellt, liegt offen zutage, ebenso,
dass in GM I 13 jenseits der Sprachkritik keinerlei Anstalten gemacht werden,
diese Hypothese zu begründen. Über Bittner hinaus ist festzustellen, dass der
negative Affekt der Sprachkritik, man sitze einer Chimäre auf, wenn man glau-
be, es gebe ,da draußen', wie von den indoeuropäischen Sprachen suggeriert,
so etwas wie Subjekte und Prädikate, keineswegs zu einer positiven Aussage
berechtigt, wie es denn stattdessen um die Wirklichkeit bestellt sei. Mit ande-
ren Worten: Selbst wenn man zugesteht, dass es nur eine irreführende Sprach-
struktur sei, die uns die Überzeugung eingebe, wir seien handelnde Subjekte,
folgt daraus mitnichten die zwingende Einsicht, in der Wirklichkeit gebe es
eben keine Täter, sondern nur Tun. Ebenso gut könnte das Gegenteil wahr
sein, das sprachliche Subjekt-Prädikat-Aussagemuster nur eine grobe, verkür-
zende Darstellung eines viel komplizierteren Sachverhalts vorstellen, in dem
zahllose Agenten und zahllose Wirkkräfte und Wirkeffekte miteinander ver-
koppelt sind. Die vielleicht in ihrer Knappheit elegante, zugleich aber gewalt-
same Hypothese, dass es nur Geschehen und keine Akteure gibt, würde, beim
Wort genommen, im Übrigen mit einem Handstreich alle Erörterungen über
starke und schwache Individuen und damit die Kritik an der Sklavenmoral auf
den Müllhaufen der Geschichte befördern. Gerade wenn man, wie GM es unent-
wegt tut, das geschichtliche Gewordensein unserer Urteile hervorhebt (vgl. im
Blick auf GM I 13 dazu Schrift 2001, 50-52), wirkt eine ontologische Generalhy-
pothese, wie die in GM I 13 formulierte, unhistorisch-abwegig, als wäre sie
selbst Ausdruck jenes metaphysischen Versteinerungswillens, den N.s Spre-
cherinstanz gerade der Philosophie anzukreiden pflegt. Für dekonstruktive
Lesarten der Welt wie diejenige Paul de Mans ist diese Generalhypothese, Sein
und Akteure seien zum Tun bloß hinzugedichtet, allerdings ein gefundenes
Fressen, das sie zu einem Festmahl aufhübschen (Man 1988, 171 f.).
279, 29-32 Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuch-
ten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache
und dann noch einmal als deren Wirkung.] Das Blitzbeispiel (das auf Lichten-
berg 1867, 1, 99 zurückverweist, vgl. Stingelin 2018, 228 u. 236, Anm. 42-46)
 
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