196 Zur Genealogie der Moral
haben würden" (282, 17 f.). Und nun beklagt sich der Beobachter über die we-
gen der Lügen stinkende, ,,[s]chlechte Luft" (282, 19) und scheint seine Explo-
ration abbrechen zu wollen, was das „Ich" mit einem „Nein!" (282, 22) freilich
unterbindet, weil der Beobachter - wie es jetzt im ersten längeren Wechselre-
denbeitrag dieses „Ich" heißt - noch gar nicht vom „Meisterstücke dieser
Schwarzkünstler" (282, 23) gesprochen habe, nämlich, was diese „aus Rache
und Hass" (282, 28) machen. Der Beobachter gibt in seiner fünften Äußerung
zurück, er spitze noch einmal die „Ohren" und halte sich „die Nase zu" (282,
31 f.) - sehen tut er offenbar nach wie vor nichts. Was er dabei vernimmt, ist,
dass sich die Idealfabrikateure als die „Guten" und „Gerechten" (282, 33)
sehen, aber den Gedanken von Rache weit von sich weisen und stattdessen
von Vergeltung, vom „Triumph der Gerechtigkeit" (283, 1) und vom „Sieg
Gottes" (283, 5) sprechen. Ging es zuerst also um die positiven Aussichten für
die Gläubigen, nämlich die Seligkeit, stehen dazu komplementär jetzt die nega-
tiven Aussichten für die Ungläubigen. Das „Ich" fragt zurück, wie die Idealfab-
rikateure denn „ihre Phantasmagorie der vorweggenommenen zukünftigen Se-
ligkeit" (283, llf.) nennen, und erhält als sechste Äußerung des danach ver-
stummenden Gesprächspartners, sie hießen es das „,das jüngste Gericht', das
Kommen ihres Reichs" (283, 13 f.). Jetzt wird es auch dem „Ich" zuviel und
es ruft: „Genug! Genug!" (283, 17). Die eigentlichen Akteure, die christlichen
Werteschmiede bekommt man bei alledem weder zu Gesicht, noch werden sie
beschrieben - der Berichterstatter hört und riecht nur, sieht aber nicht.
GM I 14 erweckt zunächst den Eindruck, das „Ich" ziehe mit dem angespro-
chenen Gegenüber einen externen Beobachter hinzu, um seine eigenen moral-
geschichtlichen Hypothesen empirisch und von unabhängiger Seite zu beglau-
bigen. Aber dieser Eindruck gründet auf einer literarischen Finte, denn tatsäch-
lich ist nicht nur der externe Beobachter eine Erfindung N.s, sondern auch das,
was dieser angeblich wahrnimmt, ist nicht die moralgeschichtliche Realität,
sondern eine mythologische Verdichtung des sklavenmoralischen Umwer-
tungsgeschehens. Aber durch die Verdopplung der Personen, die dasselbe be-
haupten und wahrgenommen haben wollen, wird der (reale) Leser quasi in
die Zange genommen - eine alternative Sicht auf das Geschehen wird ihm so
erschwert, wenn nicht verunmöglicht: Der Leser soll es so sehen, wie es das
sprechende „Ich" sieht, das zur Erhöhung des Drucks noch einen weiteren
Zeugen aufbietet. Was die mythologische Szenerie selbst angeht, so hat man
wiederholt darauf hingewiesen, dass sie an das von Sokrates vorgetragene
Höhlengleichnis (Platon: Politeia 514a-520e) erinnere oder dessen Inversion
darstelle (die bei Platon als wahre Welt gedachte Ideenwelt gilt hier gerade als
die falsche Welt der Ideale, vgl. z. B. NK KSA 6, 72, 16-18), wobei die Idealfabri-
kateure offenbar nie aus ihrem unterirdischen Verblendungszusammenhang
haben würden" (282, 17 f.). Und nun beklagt sich der Beobachter über die we-
gen der Lügen stinkende, ,,[s]chlechte Luft" (282, 19) und scheint seine Explo-
ration abbrechen zu wollen, was das „Ich" mit einem „Nein!" (282, 22) freilich
unterbindet, weil der Beobachter - wie es jetzt im ersten längeren Wechselre-
denbeitrag dieses „Ich" heißt - noch gar nicht vom „Meisterstücke dieser
Schwarzkünstler" (282, 23) gesprochen habe, nämlich, was diese „aus Rache
und Hass" (282, 28) machen. Der Beobachter gibt in seiner fünften Äußerung
zurück, er spitze noch einmal die „Ohren" und halte sich „die Nase zu" (282,
31 f.) - sehen tut er offenbar nach wie vor nichts. Was er dabei vernimmt, ist,
dass sich die Idealfabrikateure als die „Guten" und „Gerechten" (282, 33)
sehen, aber den Gedanken von Rache weit von sich weisen und stattdessen
von Vergeltung, vom „Triumph der Gerechtigkeit" (283, 1) und vom „Sieg
Gottes" (283, 5) sprechen. Ging es zuerst also um die positiven Aussichten für
die Gläubigen, nämlich die Seligkeit, stehen dazu komplementär jetzt die nega-
tiven Aussichten für die Ungläubigen. Das „Ich" fragt zurück, wie die Idealfab-
rikateure denn „ihre Phantasmagorie der vorweggenommenen zukünftigen Se-
ligkeit" (283, llf.) nennen, und erhält als sechste Äußerung des danach ver-
stummenden Gesprächspartners, sie hießen es das „,das jüngste Gericht', das
Kommen ihres Reichs" (283, 13 f.). Jetzt wird es auch dem „Ich" zuviel und
es ruft: „Genug! Genug!" (283, 17). Die eigentlichen Akteure, die christlichen
Werteschmiede bekommt man bei alledem weder zu Gesicht, noch werden sie
beschrieben - der Berichterstatter hört und riecht nur, sieht aber nicht.
GM I 14 erweckt zunächst den Eindruck, das „Ich" ziehe mit dem angespro-
chenen Gegenüber einen externen Beobachter hinzu, um seine eigenen moral-
geschichtlichen Hypothesen empirisch und von unabhängiger Seite zu beglau-
bigen. Aber dieser Eindruck gründet auf einer literarischen Finte, denn tatsäch-
lich ist nicht nur der externe Beobachter eine Erfindung N.s, sondern auch das,
was dieser angeblich wahrnimmt, ist nicht die moralgeschichtliche Realität,
sondern eine mythologische Verdichtung des sklavenmoralischen Umwer-
tungsgeschehens. Aber durch die Verdopplung der Personen, die dasselbe be-
haupten und wahrgenommen haben wollen, wird der (reale) Leser quasi in
die Zange genommen - eine alternative Sicht auf das Geschehen wird ihm so
erschwert, wenn nicht verunmöglicht: Der Leser soll es so sehen, wie es das
sprechende „Ich" sieht, das zur Erhöhung des Drucks noch einen weiteren
Zeugen aufbietet. Was die mythologische Szenerie selbst angeht, so hat man
wiederholt darauf hingewiesen, dass sie an das von Sokrates vorgetragene
Höhlengleichnis (Platon: Politeia 514a-520e) erinnere oder dessen Inversion
darstelle (die bei Platon als wahre Welt gedachte Ideenwelt gilt hier gerade als
die falsche Welt der Ideale, vgl. z. B. NK KSA 6, 72, 16-18), wobei die Idealfabri-
kateure offenbar nie aus ihrem unterirdischen Verblendungszusammenhang