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Stellenkommentar GM I 14, KSA 5, S. 280 197

hinauskommen (vgl. z. B. Heblik 2006, 150). Allerdings lassen sich auch andere
Traditionsbezüge namhaft machen, namentlich derjenige auf die in GM I 15,
KSA 5, 283, 28-284, 2 gleich genannte Divina Commedia von Dante Alighieri:
Der Abstieg ins Inferno stellt unterweltliche Abscheulichkeiten ins Licht der
dichterischen Gestaltung; auch da steht dem Dichter-Ich ein kundiger Führer -
sein antiker Kollege Vergil - zur Seite. In der N. unmittelbar vor Augen stehen-
den Tetralogie Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner ist das Unterwelt-
liche der Lebensbereich der Zu-kurz-Gekommenen: Alberich herrscht über
die Nibelungen in einer unterirdischen Kluft und treibt alle zur Fronarbeit an,
weil er sich mit dem Tarnhelm unsichtbar machen kann, „Nacht und Nebel,
niemand gleich!" (Rheingold, 3. Szene, vgl. AC 58, KSA 6, 246, 11!). Aber das
unterirdische Nibelheim reicht Alberich nicht, er will die Weltherrschaft an
sich reißen. Auch im Fortgang der Tetralogie bieten Höhlen und abgründige
(Schmiede-)Werkstätten pittoreske Schauplätze. Aber ebenfalls rezentere
Lektüren dürften N. das Motiv des Unterirdischen schmackhaft gemacht ha-
ben, zum einen die Dostojewskij-Adaption L'esprit souterrain (Dostoievsky
[1886b]), die in N.s Brief an Overbeck vom 23. 02. 1887 aufgerufen wird
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 804, S. 27 f., Z. 16-29), zum anderen Ernest Renans sie-
bendbändige Histoire des origines du Christianisme, von der es im selben Brief
heißt: „Diesen Winter habe ich auch Renans Origines gelesen, mit viel Bos-
heit und — wenig Nutzen. Diese ganze Geschichte kleinasiatischer Zustände
und sentiments scheint mir auf eine komische Weise in der Luft zu schwe-
ben" (ebd., S. 28, Z. 34-37). So wegwerfend die Bemerkung auch klingt: N.
hat das umfängliche Werk offensichtlich intensiv studiert und immer wieder
als Quelle darauf zurückgegriffen. Renan beschreibt darin - mitunter in An-
lehnung an antike, christentumskritische Quellen wie Tacitus und Kelsos -
das frühe Christentum als eine Bewegung, die sich im sozialen Untergrund
formiert und von da aus allmählich Raum gewonnen hat. Das zentrale Motiv
des Unterirdischen wird bereits im allerersten Satz der Einleitung zum Gesamt-
werk benannt: „Une histoire des ,Origines du Christianisme' devrait embrasser
toute la periode obscure, et, si j'ose le dire, souterraine, qui s'etend depuis les
premiers commencements de cette religion jusqu'au moment oü son existence
devient un fait public, notoire, evident aux yeux de tous." (Renan 1867, XXIII.
„Eine Geschichte der ,Ursprünge des Christentums' müsste die gesamte un-
durchsichtige und, wenn ich das sagen darf, unterirdische Periode umfassen,
die sich von den ersten Anfängen dieser Religion bis zum Augenblick erstreckt,
als ihre Existenz eine öffentliche Tatsache wurde, bekannt und allen Augen
offenkundig.") Vgl. NK KSA 6, 184, 22.
Die eigentliche Funktion des mythologisierenden Dialogs GM I 14 besteht
nicht darin, empirische Evidenzen für das bisher in GM I Gesagte aus vermeint-
 
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