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Stellenkommentar GM I 15, KSA 5, S. 283 203

283, 19 Im Glauben woran?] Der Anfang von GM I 15 nennt den Schluss von
GM I 14 aufgreifend die christlichen Kardinaltugenden nach 1. Korinther 13;
der erste Satz ist die Frage: „Im Glauben woran?". Damit korrespondiert am
Ende von GM I 15 das ausgewiesene Zitat 1. Korinther 2, 9 (285, 20) aus Tertulli-
an: De spectaculis 30, 7 und im Anschluss an den Tertullian-Text der Schluss-
satz — zwei Worte aus De spectaculis 30, 7 wiederholend —: „Per fidem [sc.
durch den Glauben]: so steht's geschrieben." (285, 23) Der Abschnitt ist mithin
zyklisch organisiert.
283, 21 f. irgendwann soll auch ihr „Reich" kommen] Die Umkehrung und ego-
istische Adaption der im Vaterunser an Gott adressierten Zeile, sein Reich kom-
me (Matthäus 6, 10).
283, 28-284, 3 Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit
einer schreckeneinflössenden Ingenuität, jene Inschrift über das Thor zu seiner
Hölle setzte „auch mich schuf die ewige Liebe": — über dem Thore des christli-
chen Paradieses und seiner „ewigen Seligkeit" würde jedenfalls mit besserem
Rechte die Inschrift stehen dürfen „auch mich schuf der ewige Hass" — gesetzt,
dass eine Wahrheit über dem Thor zu einer Lüge stehen dürfte!] Die Anspielung
bezieht sich auf Dante Alighieri: Divina Commedia: Inferno III 4-6, wo es heißt:
„Giustizia mosse il mio alto fattore; / fecemi la divina podestate, / la somma
sapienza e 'l primo amore." („Gerechtigkeit war der Bewegungsgrund / Deß,
der mich schuf; mich gründend, that er offen / Allmacht, Allweisheit, erste
Liebe kund." Übersetzung von Karl Streckfuß und Rudolf Pfleiderer.) Wortlaut
und Sinn weichen in Dantes Original also stark von dem ab, was N. daraus
macht, der unter seinen Büchern übrigens nur zwei deutsche Übersetzungen
der Vita nuova (NPB 109) sowie eine Graphiksammlung nach Dante (Genelli
1867) besaß, wo man das Zitat vergeblich sucht.
Der eigentümliche Witz von 283, 28-284, 3 besteht auch darin, dass die
aufgebaute Lesererwartung unterlaufen wird: Nach der Behauptung, Dante
habe sich mit seiner (angeblichen) Inschrift über dem Höllentor vergriffen,
wird gerade keine bessere Formulierung hierfür vorgeschlagen, sondern eine
Gegenformulierung für das Paradiesestor. Dort wiederum steht bei Dante gar
nichts.
Die Divina Commedia fehlt in N.s Bibliothek, und es darf bezweifelt wer-
den, dass N. das Werk je gründlich studiert hat (vgl. aber Biser 1976, der auf
GM I 15 kurz eingeht - ebd., 148 f. -, ohne allerdings die Quellenfrage zu erör-
tern). Tatsächlich führt N. das Pseudo-Dante-Zitat noch einmal an, nämlich in
NL 1887, KSA 12, 7[39], 308, 7-14: „Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur
mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen,
Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und
 
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