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Stellenkommentar GM II 1, KSA 5, S. 289 223

schon im Menschen vorhandenes Vermögen gewesen sei (wenn sich das bibli-
sche Urelternpaar an das göttliche Verbot halten soll, nicht vom Baum der Er-
kenntnis zu essen, muss es bereits Versprechen abgeben können). GM II setzt
also im Unterschied zu GM I nicht mit moralischen Begriffen ein, um ihre Kon-
tingenz herauszustellen, sondern mit einer vermeintlichen anthropologischen
Konstante, deren Relevanz für Moral, überhaupt für komplexere soziale Ver-
hältnisse auf der Hand liegt - und deren Nicht-Konstanz gerade demonstriert
werden soll: Die Fähigkeit, Versprechen abzugeben, soll als historisch gewor-
den statt als konstant gegeben aufgewiesen werden. So nimmt GM II 1 das
gerne als Gedächtnisdefizienz geschmähte Vergessen als den natürlichen Nor-
malfall an: Vergessen-Können als aktives Vermögen ist das, was den Menschen
stark macht, weil es dafür sorgt, dass sein Bewusstsein nicht überlastet wird
und handlungs- bzw. planungsfähig bleibt. Das erst langsam entwickelte „Ge-
genvermögen" (292, 10) des Erinnerns ist kein Nicht-loswerden-Können von
womöglich unangenehmen Eindrücken, sondern ein „Nicht-wieder-los-werden-
wollen" (292, 16 f.), ein Fixieren des eigenen Willens, durch das sich der
Mensch in die Zukunft hinein festlegt. Die unausgesprochene Implikation ist
das Bestreben, die soziale Welt nicht nur in der Gegenwart, sondern auch für
die Zukunft verlässlich zu machen: Nur wenn Versprechen eingehalten wer-
den, lässt sich eine Gesellschaft strukturieren. GM II 1 deutet an, dass es sich
hierbei um einen in hohem Maße voraussetzungsreichen und langwierigen
Prozess der Menschenformung gehandelt hat - wobei weder dessen treibende
Akteure (von der „Natur" ist 291, 7 die Rede) noch das Verhältnis des gewollten
zum offenbar doch vorkommenden ungewollten Erinnern thematisiert werden.
Als eigentliches Problem der Menschwerdung, als geschichtlich-evolutionäres
Geschehen verstanden (Schacht 2013, 336 hält das Entwicklungskonzept in
GM II 1 für eine Form des Lamarckismus - heute würde man dazu wohl Epige-
netik sagen), exponiert GM II 1 die Willenskontinuität statt der bloßen Willens-
situativität: Wie ist der Mensch zu einem Wesen geworden, das nicht nur in
der Gegenwart, der jeweils gegebenen Situation etwas will oder nicht will, son-
dern das in die Zukunft hinein wollen kann? Dieses Wesen muss in der Lage
sein, die unmittelbare Ausübung seines Wollens aufzuschieben; es muss in der
Lage sein, die Zukunft als Gestaltungsraum zu verstehen, die kausal von der
Gegenwart bestimmt wird. Es muss, und das ist die Schlusspointe von GM II 1,
auch ein in hohem Maße selbst verlässlich, berechenbar gemachtes Wesen
sein. Versprechen-Können erscheint - obwohl das nicht ausgesprochen wird,
da GM II 1 aus der Perspektive des Einzelnen argumentiert - mindestens eben-
so sehr als ein Akt der Unterwerfung unter das Wollen anderer - dass jemand
nämlich sein Versprechen dereinst tatsächlich einhält - wie als ein Akt des
eigenen Verfügens über sich und seinen Willen. Versprechen-Können bedeutet
 
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