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224 Zur Genealogie der Moral

einen Zugewinn an Möglichkeiten und Freiheit - und zugleich eine Einschrän-
kung von Möglichkeiten und Freiheit.
In auffälliger Parallelität zu GM I 1 stellt Harald Höffdings Psychologie in
Umrissen auch für GM II 1 eine wichtige Quelle dar.
291, 5-7 Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf — ist das nicht gera-
de jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Men-
schen gestellt hat?] Zum Begriff der Züchtung vgl. NK 276, 19-30. Eine Provoka-
tion besteht darin, gleich zu Beginn von GM II den Menschen unter die Tiere
zurückzustellen, was GM III 25, KSA 5, 404, 16 als spezifisch neuzeitliche, an-
thropologische Selbstdesillusionierung begreift. Die berühmten, auf Aristoteles
zurückgehenden Bestimmungen des Menschen als tyov noÄtTiKov und als
Qpov Aoyov &xov (Aristoteles: Politik 1253a 2f. u. 7-10), als politisches und
sprachbegabtes Lebewesen, erlauben allerdings durchaus schon, „tyov" mit
„Tier" zu übersetzen.
In seiner Broschüre Das Recht als Kulturerscheinung von 1885 hat Josef Koh-
ler herausgestellt, wie Versprechen und Schuldverhältnisse zusammenhängen,
und welcher drastischer Maßnahmen es bedurft hatte, um den Schuldner zur
Rückzahlung seiner Schuld zu bewegen, also sein Versprechen auch einzu-
halten (vgl. schon Thatcher 1989, 591). N. hat in den entsprechenden Passagen,
die in NK 299, 3-10 dokumentiert werden (Kohler 1885a, 17 u. 20), zahlreiche
Lesespuren hinterlassen. GM verbindet nun die rechtshistorische Perspektive
mit einer anthropologisch-gedächtnisgeschichtlichen, der zufolge das Erinnern
ein historisch erworbenes, angezüchtetes „Gegenvermögen" (292, 10) zum Ver-
gessen vorstellt. Wichtige Stichworte für die in GM II 1 zum Ausdruck gebrachte
Hochschätzung des Vergessens fand N. in Harald Höffdings Psychologie in Um-
rissen (vgl. NK 291, 11-19).
Valverde 2005, 70 behauptet, GM II 1 beginne in 291, 5-7 mit der seit Aristo-
teles geläufigen Frage, was denn den Menschen von (anderen) Tieren unter-
scheide, und zwar unter der Voraussetzung, dass der Mensch im Gegensatz zur
christlichen Lehre weder eine unsterbliche Seele noch einen freien Willen
habe. Dagegen ist einzuwenden, dass die Frage nach der anthropologischen
Differenz hier sichtlich nicht im Vordergrund steht, sondern die nach der Züch-
tungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen hin zu einem versprechen
dürfenden, also gedächtnisfähigen Wesen (vgl. Klass 2002, 237-410). Es geht
also um einen evolutionär-historischen Prozess, nicht um einen statischen
menschlich-animalischen Substanzunterschied (vielleicht sind auch andere
Tiere zu versprechenden Wesen erziehbar). Irreführend ist auch die Lesart von
Erich Fromm, dem zufolge 291, 5-7 versuche, das „Wesen" des Menschen zu
definieren, wogegen Fromm einwendet: „solche Definitionen drücken wesentli-
che Eigenschaften des Menschen, nicht aber sein Wesen aus" (Fromm 1981,
 
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