228 Zur Genealogie der Moral
sperren: Vergesslichkeit wird metaphorisch zur „Thürwärterin" (291, 27, vgl. zur
Rekonstruktion von N.s Argumentation Brusotti 1992b, 87-89).
Der Begriff des „Hemmungsvermögens" (191, 14) kommt bei N. nur in
GM II 1 vor und fehlt bei Höffding 1887 (und Baumann 1879). Hingegen sind
die korrespondierenden französischen Wendungen „force d'inhibition" („Hem-
mungskraft") und „pouvoir d'inhibition" („Hemmungsvermögen") zentrale
Termini in Charles Richets Essai de psychologie generale, den N. besessen hat
(ausführlich Richet 1887, 172-181). Richet bezeichnet den Willen selbst als ein
solches Hemmungsvermögen: „Cette force d'inhibition peut etre appelee la vo-
lonte; et, de fait, c'est surtout en arretant, diminuant, moderant des actions
reflexes ou instinctives que la volonte parait s'exercer." (Ebd., 172, vgl. 177.
„Diese Hemmungskraft kann als Wille bezeichnet werden; und in der Tat
scheint sich der Wille vor allem im Aufhalten, Verringern, Mildern der Reflexe
oder instinktiven Handlungen zu üben.")
„Einverseelung" (291, 16) ist ebenfalls ein Hapax legomenon in N.s Werken
und hier offensichtlich in Analogie zu dem bei N. recht häufig begegenden
Substantiv „Einverleibung" gebildet. Das Verb „einverseelen" ist allerdings
schon im 18. Jahrhundert belegt (Grimm 1854-1971, 3, 336). Höffding 1887, 161
wiederum benutzt den Begriff des Einverleibens auch, wenn es darum geht,
mentale Aneignungsprozesse zu beschreiben - N. scheint diese Prozesse durch
die Parallelbildung „Einverseelung" einfangen zu wollen. Vgl. ebd.: „Die zu-
sammengesetzte Natur der Perzeption gibt uns einen wichtigen Beitrag zur Be-
stimmung des Verhältnisses zwischen sinnlichem Wahrnehmen und Denken.
Da die Perzeption auf einem Prozess beruht, der sich als unwillkürliches
Vergleichen bezeichnen lässt, so tritt sie als eine Thätigkeit des Denkens
auf, durch welche wir uns das in der Empfindung Gegebne aneignen, die Emp-
findung dem Inhalt unsers Bewusstseins einverleiben." (N.s Unterstreichun-
gen).
291, 12 vis inertiae] Vgl. NK 257, 16.
291, 19-24 Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen; von
dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für
und gegen einander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig ta-
bula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues] Die Vorstellung,
dass das Bewusstsein eine „tabula rasa", eine leere Wachstafel oder ein weißes
Stück Papier sei, bevor Sinneseindrücke sich darin festsetzen, ist schon aus
der Antike bekannt und wurde insbesondere durch die britische, empiristische
Philosophie popularisiert (vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Under-
standing [1690], Book II, Chap. I, 2: Bewusstsein als „white paper", dazu auch
Stegmaier 1994, 134). Abgesehen von einem Brief an Hermann Mushacke vom
sperren: Vergesslichkeit wird metaphorisch zur „Thürwärterin" (291, 27, vgl. zur
Rekonstruktion von N.s Argumentation Brusotti 1992b, 87-89).
Der Begriff des „Hemmungsvermögens" (191, 14) kommt bei N. nur in
GM II 1 vor und fehlt bei Höffding 1887 (und Baumann 1879). Hingegen sind
die korrespondierenden französischen Wendungen „force d'inhibition" („Hem-
mungskraft") und „pouvoir d'inhibition" („Hemmungsvermögen") zentrale
Termini in Charles Richets Essai de psychologie generale, den N. besessen hat
(ausführlich Richet 1887, 172-181). Richet bezeichnet den Willen selbst als ein
solches Hemmungsvermögen: „Cette force d'inhibition peut etre appelee la vo-
lonte; et, de fait, c'est surtout en arretant, diminuant, moderant des actions
reflexes ou instinctives que la volonte parait s'exercer." (Ebd., 172, vgl. 177.
„Diese Hemmungskraft kann als Wille bezeichnet werden; und in der Tat
scheint sich der Wille vor allem im Aufhalten, Verringern, Mildern der Reflexe
oder instinktiven Handlungen zu üben.")
„Einverseelung" (291, 16) ist ebenfalls ein Hapax legomenon in N.s Werken
und hier offensichtlich in Analogie zu dem bei N. recht häufig begegenden
Substantiv „Einverleibung" gebildet. Das Verb „einverseelen" ist allerdings
schon im 18. Jahrhundert belegt (Grimm 1854-1971, 3, 336). Höffding 1887, 161
wiederum benutzt den Begriff des Einverleibens auch, wenn es darum geht,
mentale Aneignungsprozesse zu beschreiben - N. scheint diese Prozesse durch
die Parallelbildung „Einverseelung" einfangen zu wollen. Vgl. ebd.: „Die zu-
sammengesetzte Natur der Perzeption gibt uns einen wichtigen Beitrag zur Be-
stimmung des Verhältnisses zwischen sinnlichem Wahrnehmen und Denken.
Da die Perzeption auf einem Prozess beruht, der sich als unwillkürliches
Vergleichen bezeichnen lässt, so tritt sie als eine Thätigkeit des Denkens
auf, durch welche wir uns das in der Empfindung Gegebne aneignen, die Emp-
findung dem Inhalt unsers Bewusstseins einverleiben." (N.s Unterstreichun-
gen).
291, 12 vis inertiae] Vgl. NK 257, 16.
291, 19-24 Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen; von
dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für
und gegen einander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig ta-
bula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues] Die Vorstellung,
dass das Bewusstsein eine „tabula rasa", eine leere Wachstafel oder ein weißes
Stück Papier sei, bevor Sinneseindrücke sich darin festsetzen, ist schon aus
der Antike bekannt und wurde insbesondere durch die britische, empiristische
Philosophie popularisiert (vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Under-
standing [1690], Book II, Chap. I, 2: Bewusstsein als „white paper", dazu auch
Stegmaier 1994, 134). Abgesehen von einem Brief an Hermann Mushacke vom