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238 Zur Genealogie der Moral

was andere Autoren wie Katsafanas 2016 vehement verteidigen. Eine vermit-
telnde Position nimmt Schulte 2017 ein, die auseinandersetzt, dass N. einer-
seits über das souveräne Individuum spotte, das zu Unrecht stolz auf seine
Fähigkeit sei, versprechen zu dürfen, er aber andererseits das souveräne Indi-
viduum positiv werte, weil es sich aus den Zwängen des schlechten Gewissens
befreit und zur Selbst- und Lebensbejahung fortgeschritten sei. Volker Ger-
hardt sieht im „souveränen Individuum" von GM II 2, das er auf Äußerungen in
N.s mittlerer Schaffensphase zurückbuchstabiert, sogar eine positive politische
Philosophie angelegt: „Politik im Sinne Nietzsches wird überall dort möglich,
wo sich die Kräfte einer Kultur in souveränen Individuen konzentrieren. Und
sie wird überall dort gemacht, wo diese Individuen im bewussten Vorgriff ihre
Zukunft organisieren. Die Politik basiert so auf dem Versprechen, das man Per-
sonen mit starkem Willen abnimmt. Ihnen traut man es zu, über die inneren
und äußeren Machtmittel zu verfügen, durch die sich künftige Handlungen
bestimmen lassen. In ihnen artikuliert sich das Selbstvertrauen einer Gesell-
schaft, über ihr eigenes Geschick entscheiden zu können." (Gerhardt 2011, 255)
Sedgwick 2005 betont im Hinblick auf GM II 1-2 die Prädominanz einer Gewalt-
ökonomie in N.s Rekonstruktion der historischen Zustände und zieht daraus
Folgerungen für N.s Begriff von (großer) Politik.
293, 8-10 Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir „Sittlichkeit der Sitte" ge-
nannt worden ist (vergl. Morgenröthe S. 7. 13.16).] Vgl. NK 251, 12-14. Die Stellen
sind Nietzsche 1881/1887b, 7 = M 9, KSA 3, 24; Nietzsche 1881/1887b, 13 = M
14, KSA 3, 26 u. Nietzsche 1881/1887b, 16 = M 15 u. M 16, KSA 3, 28 f. Als Quelle
für die Wendung „Sittlichkeit der Sitte" sind unterschiedliche Autoren ins Ge-
spräch gebracht worden, so neben Hegels Phänomenologie des Geistes und
Rees Psychologischen Beobachtungen namentlich Walter Bagehots N. wohlbe-
kannter Ursprung der Nationen (Thatcher 1989, 591 u. Thatcher 1982), sodann
die Einleitung zu John Stuart Mills On Liberty (Ansell-Pearson 1991a, 190,
Fn. 39). Das Problem ist aber, dass all diese Bücher (ebenso wie Spencer, vgl.
Fornari 2009, 161 f.) zwar von Sitte und Sittlichkeit reden, aber die von N. seit
M 9 benutzte Wendung gerade nicht verwenden. Zur „Sittlichkeit der Sitte" vor
dem Hintergrund von N.s zeitgenössischen Lektüren vgl. z. B. Brusotti 1997,
252-255 u. 398 f. sowie Orsucci 1996, 154 u. 192-198.
Die Pointe des Begriffsgebrauchs in M besteht gerade darin, dass Sittlich-
keit und Sitte nicht einander entgegengesetzt werden, wie es in der moralphilo-
sophischen, aber auch moralempirischen Diskussion üblich war (jedenfalls da,
wo sie sich unabhängig von Hegels Entgegensetzung von Sittlichkeit und Mo-
ralität machte): Sitte aufgefasst als die kontingenten habitualisierten Lebens-
weisen der Menschen, denen oft die Inspiration durch wahre Sittlichkeit fehle.
Zwar polemisiert z. B. Bagehot 1874, 136 f. gegen die Vorstellung, es gebe so
 
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