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248 Zur Genealogie der Moral

Menschen durch Grausamkeit ein Erinnerungsvermögen anzutrainieren, sei et-
was, was in geschichtlicher Zeit überflüssig geworden ist. Dann würde man
unter „Vorgeschichte" die „Prähistorie" verstehen, jenen „Abschnitt der Exis-
tenz des Menschengeschlechts, welcher der Zeit, über welche die Geschichte
berichtet, vorausgeht. Während letztere Epoche selbst bei den ältesten Kultur-
völkern nur etwa 5-6 Jahrtausende umfaßt, ist die Dauer der prähistorischen
Existenz des Menschengeschlechts nach Hunderttausenden von Jahren zu be-
rechnen." (Meyer 1885-1892, 13, 312, vgl. z. B. Friedrich Ratzels Vorgeschichte
des europäischen Menschen von 1874). Eine Pointe von GM II 3 liegt aber gerade
darin, dass sich die fraglichen mnemotechnischen Schmerzbereitungsmetho-
den auf die gesamte Menschheitsgeschichte erstrecken und bis in die europä-
ische Gegenwart hineinreichen; und alle Beispiele, die der Text beibringt, sind
solche aus geschichtlicher Zeit. Das passt auch zum Gebrauch des Wortes „Vor-
zeit" in GM II 9, KSA 5, 307, 4 f.: „welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist
oder wieder möglich ist". N. benutzt den Ausdruck „Vorgeschichte" oft auch
nicht menschheitsepochal, sondern zur Bezeichnung eines Vorhergehens, ei-
nes Zu-etwas-Führens (z. B. GM Vorrede 4, KSA 5, 251, 10). GM II 7, KSA 5, 303,
16 f. und GM II 14, KSA 5, 319, 2 rufen mit „Vorgeschichte" allerdings tatsächlich
die unabsehbar lange, menschliche Frühzeit auf, in KSA 5, 319, 16 f. mit der
Wendung „Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen". In GM II 3 wird
aber eben nicht deutlich, worin sich Vorgeschichte und Geschichte mnemo-
technisch unterscheiden sollen.
Höffe 2004b, 78 leitet aus GM II 3 eine dreistufige Periodisierung der
„Menschheitsentwicklung" ab: erstens das initiale vergessliche Menschen-Tier,
zweitens „die Vorgeschichte des Menschen' ([S. 295,] Z. 13), in der das Men-
schen-Tier mittels grausamer Strafen eine Gedächtniskunst entwickelt", drit-
tens „der tatsächliche Mensch, der seine Affekte beherrscht, freilich nur dann
das souveräne Individuum von Abschnitt II 2 bildet, wenn man sich zusätzlich
von den moralischen Vorgaben der Gesellschaft, der Sitte und den Sitten, löst
und nur dem ,eigenen unabhängigen langen Willen' folgt (293, 24 f.)." Aller-
dings hat sich das souveräne Individuum nach GM II 2 völlig aus der für die
zivilisierten Menschen charakteristischen Bindung an die „Sittlichkeit der Sit-
te" emanzipiert, während die Stufen 2 und 3 aus Höffes Schema in N.s Text
nicht klar differenziert sind, weil die Unterscheidung von „Vorgeschichte" und
Geschichte in GM II 3 eben nicht klar durchgeführt wird. Ohnehin ist fraglich,
ob es hier darum geht, die gesamte „Menschheitsentwicklung" zu periodisie-
ren.
295, 13 Mnemotechnik] In 295, 32 wird offenbar alternativ zu „Mnemotech-
nik" der Ausdruck „Mnemonik" benutzt; im Druckmanuskript stehen sowohl
„Mmemonik" wie „Mnemotechnik" ohne Korrektur in der ursprünglichen Text-
 
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