258 Zur Genealogie der Moral
wortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige
zu strafen sei" (298, 11-13), sondern um seinem negativen Affekt angesichts
des angerichteten Schadens, seinem „Zorn" (298, 14 u. 15) Luft zu machen. Die
eigentliche Strafpraxis setzt nach GM II 4 aber erst dort ein, wo der Zorn gebän-
digt wird, nämlich von der „Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äqui-
valent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen
Schmerz des Schädigers" (298, 16-19). Daraus folgt, dass das Strafrecht nach
GM II 4 historisch auf einer ökonomischen Grundkonstellation fußt (vgl.
Scharff 2012), nämlich auf dem Äquivalententausch: Der Schaden wird abge-
golten durch den Schmerz seines Verursachers, an dem sich der Geschädigte
weiden kann. Mit dieser obligationenrechtlichen Herleitung des Strafrechts
wendet sich N. unter Rückendeckung von Kohler und Post implizit gegen Düh-
ring, für den das Strafrecht auf Rache gründet und allen anderen Rechtsver-
hältnissen vorangeht (vgl. Brusotti 1992b, 95 f.). Die Spannung zwischen den
Erklärungsansätzen von GM II 4 und GM II 3, wonach die gewaltsamen Straf-
maßnahmen gerade erfunden worden sind, um den Menschen-Tieren ein Ge-
dächtnis erst anzuzüchten, besteht nur scheinbar: In beiden Fallgruppen geht
es im Strafrecht darum, die Menschen verlässlich, sozusagen zu sozialtaugli-
chen homines oeconomici zu machen. Die Fallgruppe GM II 3 erzeugt durch
Abschreckung regelkonformes Verhalten, noch unabhängig von der Frage
nach dem entstandenen Schaden, dessentwegen die Strafe vollstreckt wird. Die
Fallgruppe GM II 4 führt vor, wie das Strafrecht regelkonformes Verhalten
durch die Äquivalentsetzung von Schaden und Schmerz erzwingt.
297, 14-16 Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück.
Nochmals gesagt — oder habe ich's noch gar nicht gesagt? — sie taugen nichts.]
Tatsächlich wird in GM wiederholt die historische Naivität bisheriger moralge-
nealogischer Versuche betont, besonders derjenigen, die die moralischen Urtei-
le mit Nützlichkeitserwägungen kurzschlossen (vgl. Gerhardt 2004, 86-88).
Siehe zu N.s Wortgebrauch NK 245, 1.
297, 17 Wille zum Wissen] N. entlieh den Begriff von Bahnsen 1882, 1, 164 u. ö.,
siehe NK KSA 5, 41, 14-18 (JGB 24).
297, 18 f. ein hier gerade nöthiges „zweites Gesicht"] Die Formulierung kommt
bei N. nur hier, in NL 1861, KGW I 2, 10[7], 255, 17 f. (eine etwas rätselhafte
Erläuterung zu einem eigenen Gedicht, vielleicht ein Schreibfehler für „Ge-
dicht": „Das zweite Gesicht ist in dem Winter oder Herbstjahrgang der Germa-
nia") sowie in einer ersten Fassung von EH Warum ich so weise bin 3 vor:
„Diese doppelte Reihe von Erfahrungen, diese Zugänglichkeit zu anschei-
nend getrennten Welten wiederholt sich in meiner Natur in jeder Hinsicht, —
ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das ,zweite' Gesicht noch äusser dem
wortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige
zu strafen sei" (298, 11-13), sondern um seinem negativen Affekt angesichts
des angerichteten Schadens, seinem „Zorn" (298, 14 u. 15) Luft zu machen. Die
eigentliche Strafpraxis setzt nach GM II 4 aber erst dort ein, wo der Zorn gebän-
digt wird, nämlich von der „Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äqui-
valent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen
Schmerz des Schädigers" (298, 16-19). Daraus folgt, dass das Strafrecht nach
GM II 4 historisch auf einer ökonomischen Grundkonstellation fußt (vgl.
Scharff 2012), nämlich auf dem Äquivalententausch: Der Schaden wird abge-
golten durch den Schmerz seines Verursachers, an dem sich der Geschädigte
weiden kann. Mit dieser obligationenrechtlichen Herleitung des Strafrechts
wendet sich N. unter Rückendeckung von Kohler und Post implizit gegen Düh-
ring, für den das Strafrecht auf Rache gründet und allen anderen Rechtsver-
hältnissen vorangeht (vgl. Brusotti 1992b, 95 f.). Die Spannung zwischen den
Erklärungsansätzen von GM II 4 und GM II 3, wonach die gewaltsamen Straf-
maßnahmen gerade erfunden worden sind, um den Menschen-Tieren ein Ge-
dächtnis erst anzuzüchten, besteht nur scheinbar: In beiden Fallgruppen geht
es im Strafrecht darum, die Menschen verlässlich, sozusagen zu sozialtaugli-
chen homines oeconomici zu machen. Die Fallgruppe GM II 3 erzeugt durch
Abschreckung regelkonformes Verhalten, noch unabhängig von der Frage
nach dem entstandenen Schaden, dessentwegen die Strafe vollstreckt wird. Die
Fallgruppe GM II 4 führt vor, wie das Strafrecht regelkonformes Verhalten
durch die Äquivalentsetzung von Schaden und Schmerz erzwingt.
297, 14-16 Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück.
Nochmals gesagt — oder habe ich's noch gar nicht gesagt? — sie taugen nichts.]
Tatsächlich wird in GM wiederholt die historische Naivität bisheriger moralge-
nealogischer Versuche betont, besonders derjenigen, die die moralischen Urtei-
le mit Nützlichkeitserwägungen kurzschlossen (vgl. Gerhardt 2004, 86-88).
Siehe zu N.s Wortgebrauch NK 245, 1.
297, 17 Wille zum Wissen] N. entlieh den Begriff von Bahnsen 1882, 1, 164 u. ö.,
siehe NK KSA 5, 41, 14-18 (JGB 24).
297, 18 f. ein hier gerade nöthiges „zweites Gesicht"] Die Formulierung kommt
bei N. nur hier, in NL 1861, KGW I 2, 10[7], 255, 17 f. (eine etwas rätselhafte
Erläuterung zu einem eigenen Gedicht, vielleicht ein Schreibfehler für „Ge-
dicht": „Das zweite Gesicht ist in dem Winter oder Herbstjahrgang der Germa-
nia") sowie in einer ersten Fassung von EH Warum ich so weise bin 3 vor:
„Diese doppelte Reihe von Erfahrungen, diese Zugänglichkeit zu anschei-
nend getrennten Welten wiederholt sich in meiner Natur in jeder Hinsicht, —
ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das ,zweite' Gesicht noch äusser dem