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262 Zur Genealogie der Moral

revolutioniert habe. Damit sei „die Basis [...] für psychologische Ausgleichs-
theorien" (ebd., 361) geschaffen worden: „Der Grundsatz, dass ohne Verschul-
den kein Anspruch auf Schadensersatz entstehe und keine Strafe zu verhängen
sei, führt mit Nothwendigkeit zur Entwickelung einer Lehre von Schuld, Zu-
rechnungsfähigkeit, Absicht, Fahrlässigkeit und damit zu einer Unterschei-
dung willensfreier und unwillkürlicher Handlungen eines Individuums."
(Ebd.) Die ursprüngliche Frage des sozialen Ausgleichs trete in den Hinter-
grund, stattdessen komme es beispielsweise zu einer „Lehre von der Strafbar-
keit des Versuchs, der Strafbarkeit einer Handlung, durch welche ein Rechts-
bruch, eine Störung des socialen Gleichgewichts vom mechanischen Stand-
punkte aus gar nicht erfolgt ist." (Ebd.) Post, der an dieser Stelle nicht mit
Polemik spart, kritisiert das Wuchern der psychologischen Erklärungsmuster
„ins Blaue hinein" und benutzt damit eine Metapher, die in GM Vorrede 7,
KSA 5, 254, 16 auch auftaucht (vgl. NK 254, 17-22): „Diese psychologischen
Theorien sind in unseren Tagen soweit ausgearbeitet, dass man die eigentliche
Basis des Strafrechts und des civilrechtlichen Exekutionsrechts ganz vergessen
hat und Theorie über Theorie vollständig ins Blaue hinein baut." (Post 1884,
361) Und er schließt: „Der Sociologie und damit auch der auf sociologischer
Basis fassenden Rechtswissenschaft müssen alle diese Theorien durchaus
fremd sein. Die Willensfreiheit ist ein individualpsychologisches Problem, aber
kein sociologisches." Aus der Perspektive von GM II 4 ließe sich ergänzen: Sie
ist auch kein moralgenealogisches Problem - oder jedenfalls erst ein Problem
der Moralentwicklung jüngster Zeit. Ersichtlich komprimiert 297, 25-298, 1
Posts Rechtsentwicklungsgeschichte, wobei das Material auf die einzelnen
Schlagworte verknappt und etwas anders sequenziert wird. Die Willensfrei-
heitsfrage, die bei Post am Schluss steht, wird dramatisch vorgezogen und ab-
gefertigt, die Abschattungen bei der Absichtlichkeit und der Fahrlässigkeit
werden verwischt, und es wird ganz ausgespart, dass das individuelle Rechts-
subjekt gar nicht ursprünglich dagewesen sein soll: Die Geschlechterverbände
fallen als handelnde und strafende Rechtspersönlichkeiten in GM II 4 völlig
aus.
Reginster 2011, 69 weist darauf hin, dass die Pointe in der Behandlung der
Frage eines freien oder unfreien Willens in der Zweiten Abhandlung gerade
darin besteht, dass sie keine signifikante Rolle spielt, vgl. auch NK 298, 1-9.
Entgegen vielfältiger Diskussionen in der (namentlich englischsprachigen) N.-
Sekundärliteratur verweigern sich N.s Schriften jeder Festlegung auch in Sa-
chen Willensfreiheit oder Willensunfreiheit, erscheint doch allein schon diese
Alternative als das Resultat einer schiefen, moralisch-metaphysische voreinge-
nommenen Wirklichkeitserschließung, vgl. NK KSA 6, 95, 10. Die Frage der
„Vergeltung" in GM II 4 hat übrigens auch nichts mit einer Auslegung des be-
 
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