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Stellenkommentar GM II 4, KSA 5, S. 297-298 263

rühmten aneipov-Fragmentes von Anaximander (Diels/Kranz 1951, 2 A 9) zu
tun, wie Shapiro 1994, 369 gerne glauben machen würde.
298, 1-9 Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche
Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl
auf Erden zu Stande gekommen ist, hat herhalten müssen, „der Verbrecher ver-
dient Strafe, weil er hätte anders handeln können" ist thatsächlich eine überaus
spät erreichte, ja raffinirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens;
wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psycholo-
gie der älteren Menschheit.] Der in Anführungszeichen gesetzte Passus ist, wie
Thatcher 1989, 591 notiert, ein abgewandeltes Zitat von Paul Ree, nämlich aus
Der Ursprung der moralischen Empfindungen, ohne dass Ree dabei doch diesem
Satz zugestimmt hätte: „Man hält den menschlichen Willen, wie gesagt, für frei.
,Der Verbrecher verdient Strafe, weil er so gehandelt hat, während er doch an-
ders handeln konnte.' / Hätte man dagegen die Nothwendigkeit der verbrecheri-
schen Handlungen eingesehen, so würde die Vorstellung, dass ihnen zu vergel-
ten sei, nicht haben Fuss fassen können. Vielmehr würde man richtig gesagt
haben: Handlungen, die nothwendig sind, können des Geschehenen selbst we-
gen nicht zur Verantwortung gezogen, nicht vergolten werden; wohl aber muss
dieselben, gerade weil sie nothwendig, dass [sic] heisst durch Motive bestimmt
sind, Strafe treffen, damit die Furcht vor dieser Strafe dem Thäter selbst und
allen übrigen zum Motiv werde, in Zukunft ähnliche Handlungen zu unterlas-
sen." (Ree 1877, 49 = Ree 2004, 155) In NL 1885, KSA 11, 38[18], 616, 9-11 (dazu
KGW VII 4/2, 479: „wahrscheinlich später niedergeschrieben") notiert N., der
Rees Werk damals noch einmal gelesen hat: ,„er hätte anders handeln kön-
nen' — dieser Gesichtspunkt zur Entstehung des Gerechtigkeitsgefühls von Ree
falsch angewendet." Dabei verteidigt Ree ja keineswegs die Willensfreiheit, die
GM II 4 für eine in Sachen Strafentwicklung zunächst völlig irrelevante Frage
hält (297, 27), sondern huldigt einem dezidierten Determinismus. GM II könnte
den Eindruck erwecken, als ob eine solche deterministische Position auch hier
vertreten werde. Tatsächlich aber wird die Frage von Freiheit oder Unfreiheit
des Willens vollkommen bagatellisiert - die scheinbar große, immerwährende
Frage der Ethik erweist sich selber als geschichtliches Spät(est)produkt, die in
rechts- und moralhistorischer Hinsicht kaum von Belang ist (vgl. NK 297, 25-
298, 1). Gegen Ree macht GM II 4 geltend, dass die Frage, ob jemand anders
hätte handeln können, für die Entstehung der Strafregime keine Rolle spielte
und erst eine späte ideologische Überformung der bereits etablierten Strafprak-
tiken ist. Bei Post 1880-1881, 1, 176 hat N. entsprechend die folgende Überle-
gung mehrfach am Rande markiert: „Der Mensch kann im gegebenen Momente
immer nur eins wollen, und der Verbrecher wird also gestraft, weil er nicht
anders hat wollen können. Er muss aber gestraft werden, weil er die Existenz
 
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