Stellenkommentar GM II 6, KSA 5, S. 300 273
GM II 6 statuiert selbst ein Exempel intellektueller Grausamkeit, stellt die-
ser Abschnitt doch Jahrtausende eines vermeintlichen moralphilosophischen
Konsenses und allgemeinmoralischer Überzeugungen in Frage, dass nämlich
Grausamkeit, die Lust am Leiden anderer verhaltenspathologisch sei. Gemäß
diesem moralphilosophischen Konsens und diesen allgemeinmoralischen
Überzeugungen handelt es sich hierbei um eine bedenkliche und verabscheu-
ungswürdige Abweichung von den richtigen Empfindungs-, Verhaltens- und
Handlungsnormen, die nie richtig oder gut gewesen sein kann, auch nicht in
geschichtlicher Vor- und Frühzeit. Grausamkeit ist demnach kein der Natur
des Menschen eigener Zug und schon gar keine anthropologische Konstante;
vielmehr erscheint sie als höchst bedauerlicher, zwischenmenschlicher Inter-
aktionsunfall. Selbst anthropologische Negativisten wie Hobbes, die den Men-
schen keineswegs ,von Natur' für gutwillig, kooperativ und gemeinwohlorien-
tiert halten, pflegen Grausamkeit nicht als Selbstzweck zu sehen, sondern bloß
als Mittel, die eigenen Interessen durchzusetzen, während Denker in der Tradi-
tion der christlich-paulinischen Erbsündentheologie das Faktum von Grausam-
keit nicht leugnen, sondern sogar für unausrottbar halten, aber auf die Sün-
denverfallenheit des Menschen zurückführen. GM II 6 hingegen stellt ohne er-
hobenen moralischen Zeigefinger und ohne den Gestus der (Selbst-)Anklage
die Grausamkeit und das Bedürfnis nach ihr nicht als Devianz, als fluchwürdi-
ge, moralische Pathologie dar, sondern als anthropologischen Normalfall. Die
Lust am Leiden-Machen und Leiden-Sehen teile der Mensch womöglich mit
anderen Primaten, sage man doch, dass „die Affen" „im Ausdenken von bizar-
ren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen" (302, 6-8).
Auch diese letzte Volte von GM II 6 war zeitgenössischen Lesern gegenüber ein
Akt der Grausamkeit, beraubt sie doch mit kaltem evolutionstheoretischem
Blick den Menschen - nunmehr bloßer Primat unter anderen Primaten - seiner
kosmischen Sonderstellung. Ob allerdings die beigebrachten Belege ausrei-
chen, um Grausamkeit als Normalfall menschlichen Verhaltens und Wollens
plausibel zu machen, sei dahingestellt; die spätere Moralphilosophie hat N.s
fundamentale Anfrage jedenfalls weitgehend ignoriert - gerne mit dem Argu-
ment, dass Aufschlüsse über das vergangene Sein des Menschen nichts über
sein jetziges und künftiges Sollen aussagten. Ob dieses Ignorieren für N. oder
für die Moralphilosophie spricht, muss offen bleiben.
300, 15-17 In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische
Begriffswelt „Schuld", „Gewissen", „Pflicht", „Heiligkeit der Pflicht" ihren Entste-
hungsheerd] Eine ähnliche Begriffsansammlung hatte N. bei Kohler 1885a, 20
gefunden und dort „Pflicht" noch an den Rand geschrieben, siehe NK 299, 3-
10.
GM II 6 statuiert selbst ein Exempel intellektueller Grausamkeit, stellt die-
ser Abschnitt doch Jahrtausende eines vermeintlichen moralphilosophischen
Konsenses und allgemeinmoralischer Überzeugungen in Frage, dass nämlich
Grausamkeit, die Lust am Leiden anderer verhaltenspathologisch sei. Gemäß
diesem moralphilosophischen Konsens und diesen allgemeinmoralischen
Überzeugungen handelt es sich hierbei um eine bedenkliche und verabscheu-
ungswürdige Abweichung von den richtigen Empfindungs-, Verhaltens- und
Handlungsnormen, die nie richtig oder gut gewesen sein kann, auch nicht in
geschichtlicher Vor- und Frühzeit. Grausamkeit ist demnach kein der Natur
des Menschen eigener Zug und schon gar keine anthropologische Konstante;
vielmehr erscheint sie als höchst bedauerlicher, zwischenmenschlicher Inter-
aktionsunfall. Selbst anthropologische Negativisten wie Hobbes, die den Men-
schen keineswegs ,von Natur' für gutwillig, kooperativ und gemeinwohlorien-
tiert halten, pflegen Grausamkeit nicht als Selbstzweck zu sehen, sondern bloß
als Mittel, die eigenen Interessen durchzusetzen, während Denker in der Tradi-
tion der christlich-paulinischen Erbsündentheologie das Faktum von Grausam-
keit nicht leugnen, sondern sogar für unausrottbar halten, aber auf die Sün-
denverfallenheit des Menschen zurückführen. GM II 6 hingegen stellt ohne er-
hobenen moralischen Zeigefinger und ohne den Gestus der (Selbst-)Anklage
die Grausamkeit und das Bedürfnis nach ihr nicht als Devianz, als fluchwürdi-
ge, moralische Pathologie dar, sondern als anthropologischen Normalfall. Die
Lust am Leiden-Machen und Leiden-Sehen teile der Mensch womöglich mit
anderen Primaten, sage man doch, dass „die Affen" „im Ausdenken von bizar-
ren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen" (302, 6-8).
Auch diese letzte Volte von GM II 6 war zeitgenössischen Lesern gegenüber ein
Akt der Grausamkeit, beraubt sie doch mit kaltem evolutionstheoretischem
Blick den Menschen - nunmehr bloßer Primat unter anderen Primaten - seiner
kosmischen Sonderstellung. Ob allerdings die beigebrachten Belege ausrei-
chen, um Grausamkeit als Normalfall menschlichen Verhaltens und Wollens
plausibel zu machen, sei dahingestellt; die spätere Moralphilosophie hat N.s
fundamentale Anfrage jedenfalls weitgehend ignoriert - gerne mit dem Argu-
ment, dass Aufschlüsse über das vergangene Sein des Menschen nichts über
sein jetziges und künftiges Sollen aussagten. Ob dieses Ignorieren für N. oder
für die Moralphilosophie spricht, muss offen bleiben.
300, 15-17 In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische
Begriffswelt „Schuld", „Gewissen", „Pflicht", „Heiligkeit der Pflicht" ihren Entste-
hungsheerd] Eine ähnliche Begriffsansammlung hatte N. bei Kohler 1885a, 20
gefunden und dort „Pflicht" noch an den Rand geschrieben, siehe NK 299, 3-
10.