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276 Zur Genealogie der Moral

portionalen zwischenmenschlichen Beziehungen in der menschlichen Frühzeit
und verzichtet auf jeden moralisierenden Empörungsgestus.
Reginster 2011, 60 deutet die Lust an der Grausamkeit in GM II 6 als Aus-
druck des Willens zur Macht, der sich in der Überwindung von Widerstand
manifestiere. Aber es gibt in N.s Text kein Anzeichen dafür, dass er hier die
Formel vom Willen zur Macht hätte in Anschlag bringen wollen. Näher liegt die
Mutmaßung, dass der Genuss am Leiden-Machen wesentlich eine Ohnmacht
kompensiert, nämlich die Ohnmacht, etwas Versprochenes nicht zurückzube-
kommen. Das Leiden-machen-Dürfen gibt den Anschein von Macht.
301, 8 Tartüfferie] Vgl. NK 253, 13. Als Synonym für Heuchelei ist „Tartüfferie"
nach dem Titelhelden von Molieres Komödie Tartuffe ou l'imposteur (1664) spä-
testens seit 1883 bei N. (ebenso wie im allgemeinen zeitgenössischen Sprachge-
brauch) sehr geläufig, vgl. die Nachweise und die Quellenbelege in NK KSA 5,
19, 14 f.
301, 5-7 Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück: „wie kann
Leidenmachen eine Genugthuung sein?") Gestrichen ist im Druckmanuskript der
ursprüngliche Text: „Rache ist nur eine Würze, eine Zuthat insofern, sie ist
nicht das Wesentliche an jenem Genuß" (GSA 71/27,1, fol. 24r). Der Seitenhieb
richtet sich gegen Eugen Dühring, der das Rachebedürfnis zum Fundament
aller Rechtsbegriffe erklärt hatte, vgl. Dühring 1865, 222, zitiert in NK 270, 25-
271, 1 (vgl. auch Post 1880-1881, 1, 174).
301, 10-12 bis zu welchem Grade die Grausamkeit die grosse Festfreude der
älteren Menschheit ausmacht] Ins Festliche gesteigerte Grausamkeit ist ein bei
der Behandlung früherer Formen menschlichen Lebens in N.s Texten stets wie-
derkehrendes Motiv, vgl. z. B. NK KSA 3, 30, 5 u. NK KSA 5, 74, 2f. „Die Grau-
samkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit." (M 18, KSA 3, 30, 15 f.)
N. hat sich dazu - vgl. Orsucci 1996, 181-189 - wesentlich in Herbert Spencers
Thatsachen der Ethik belesen, wo es u. a. heißt: „Grausamkeit viel eher als Güte
ist charakteristisch für den Wilden und in vielen Fällen erscheint sie geradezu
als Quelle grosser Befriedigung für ihn." (Spencer 1879, 202, vgl. ebd. 31, zitiert
in NK 304, 21-31). Zur Interpretation von 301, 10-12 und zum Fest als „Beispiel
einer trieberregenden Kulturtechnik" vgl. Wachter 2010, 153.
301, 13-17 wie unschuldig ihr Bedürfniss nach Grausamkeit auftritt, wie grund-
sätzlich gerade die „uninteressirte Bosheit" (oder, mit Spinoza zu reden, die sym-
pathia malevolens) von ihr als normale Eigenschaft des Menschen angesetzt
wird] Thatcher 1989, 592 hat darauf hingewiesen, dass sich eine lateinische
Formel - „sympathia malevolens" für „übelwollendes Mitgefühl" - bei Spinoza
nicht finde, wobei bereits Wurzer 1975, 104 die eigentliche Quelle namhaft ge-
 
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