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282 Zur Genealogie der Moral

ben heiterer" (302, 18) erscheinen lassen als diejenigen, in denen wie in der
Gegenwart „krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung" (302, 27 f.) um
sich griffen. Pessimismus erscheint nicht als Reaktion auf den gewaltsamen
Umgang der Menschen miteinander, sondern als kulturelles Niedergangsphä-
nomen, geboren aus Überdruss. (Werden damit implizit N.s frühe Überlegun-
gen zum griechischen Pessimismus revidiert?) Mit anderen Worten: Erst wer
seine moralischen Vorurteile gegenüber der angeblich verwerflichen Grausam-
keit nicht zu relativieren vermag, folgert aus dem Vorhandensein, ja Überhand-
nehmen des Leidens ein vernichtendes Urteil zuungunsten des Menschen, des
Lebens. GM II 7 gibt den eudaimonistischen Grundkonsens seit der antiken
Philosophie preis (gleichgültig, ob der dann einen hedonistischen oder utilita-
ristischen Zungenschlag erhält), der besagt, dass die Menschen an ihrem Glück
als Leidfreiheit, als Genussmaximierung interessiert seien und das Leiden ver-
abscheuten. N. spielt mit der Hypothese, dass das Wollen von Leiden nicht
bloß eine pathologische Aberration, sondern bei Menschen (und anderen Pri-
maten, siehe die Affen am Ende von GM II 6) der eigentliche Normalfall sei.
Damit torpediert er gründlich die moralische Fahrsicherheit seiner empfindli-
chen Gegenwartsleser, die das Leiden für ein Argument gegen das Sein halten.
Nach dieser streitbaren Eingangsexposition verlangt GM II 7, man möge
sich daran erinnern, dass die Menschen einst anders zu urteilen gewohnt ge-
wesen seien. Zunächst wird erörtert, dass die Schmerz- und Leidensempfind-
lichkeitsschwelle offensichtlich immer stärker gesunken sei, „Schmerzfähig-
keit" (303, 21) nehme mit dem Grad der Zivilisierung zu - und offensichtlich
erscheint dem Sprechenden dieser Zivilisationsprozess keineswegs als Fort-
schrittsgeschehen. Es könnte, wird weiter reflektiert, ja auch sein, dass die
„Lust an der Grausamkeit" (303, 29 f.) eine „Sublimirung und Subitilisirung"
(303, 32) durchlaufen habe und sich jetzt in kultureller oder religiöser Gestalt
Geltung verschaffe. Und eigentlich sei das Problem nicht so sehr das Leiden,
vielmehr „das Sinnlose des Leidens" (304, 5) - ein Thema, das in GM III 28,
KSA 5, 411, 19-21 wiederkehrt. Sowohl die archaischen Menschen als auch die
Christen hätten verstanden, das Leiden mit Sinn zu versehen. Dazu entwickelt
GM II 7 nun eine theogonische Theorie: Warum hätten die Menschen Götter
erfunden? Um jemanden zu haben, der das Leiden sieht und sich daran ergöt-
zen kann. „Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich er-
baut': so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls — und wirklich, war es nur
die vorzeitliche?" (304, 21-23) So seien die Götter zu den Zuschauern menschli-
cher Leidensschauspiele geworden, exemplarisch bei den Griechen, für die
„trojanische Kriege und ähnliche tragische Furchtbarkeiten" als „Festspiele
für die Götter" (304, 32-34, vgl. Horkott 2004, 316) intendiert gewesen seien.
Selbst die philosophische Erfindung des freien Willens habe keinen anderen
 
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