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284 Zur Genealogie der Moral

Schopenhauer eine ingeniöse Erklärung: „Mit jener Bejahung [sc. des Willens
zum Leben] über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung
eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehö-
rig, auf's Neue mitbejaht und die durch die vollkommenste Erkenntnißfähig-
keit herbeigeführte Möglichkeit der Erlösung diesmal für frucht-
los erklärt. Hier liegt der tiefe Grund der Scham über das Zeugungsge-
schäft." (Mainländer 1876, 536 nach Schopenhauer 1873-1874, 2, 387 f., dort
keine Hervorhebungen).
302, 22 f. Räthsel des Lebens] Vgl. NK 304, 16-21.
302, 27-29 ich meine die krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung, ver-
möge deren das Gethier „Mensch" sich schliesslich aller seiner Instinkte schämen
lernt] Das „Ich", das sich schon in der ersten Zeile von GM II 7 prominent plat-
ziert hat (302, 13), wirft sich hier wieder in die Anklägerpose. „Verzärtlichung"
ist eine Gegenwartsdiagnose, die etwa in JGB 201 auf den sozialen Umgang mit
Verbrechern appliziert wird (vgl. NK KSA 5, 123, 15-23), in JGB 202 und JGB 293
auf die gegenwärtige weltanschauliche Lage (vgl. NK KSA 5, 125, 1-126, 3 und
NK KSA 5, 236, 5-10, ferner KGW IX 6, W II 1, 43, 4 f. = NL 1887, KSA 12, 9[126],
410, 18 f. zur „Verzärtlichung" als Symptom von „Pessimismus als Nieder-
gang"). „Vermoralisierung" in verbaler und substantivierter Form taucht bei N.
erst von 1887 an gelegentlich auf; im Syntagma mit „Verzärtlichung" allerdings
nur in GM II 7 sowie im Notat NL 1887, KGW IX 6, W II 1, 32 (KSA 12, 9[146],
421, 1-5), durch das eine implizite Bezugsfigur von GM II 7 deutlicher profiliert
wird: „Gegen Rousseau: der M[ensch] ist leider nicht mehr böse genug; die
Gegner R.s, welche sagen: ,der M[ensch] ist ein Raubthier' haben leider nicht
Recht; nicht die Verderbniß des Menschen, sondern seine Verzärtlichung u.
Vermoralisirung ist der Fluch".
303, 2-7 so dass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und
mit Papst Innocenz dem Dritten missbilligend den Katalog seiner Widerwärtigkei-
ten macht („unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im Mutterleibe, Schlechtig-
keit des Stoffs, aus dem der Mensch sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Ab-
sonderung von Speichel, Urin und Koth")] Die Quelle, auf die sich diese Äuße-
rung bezieht, ist der zwischen 1190 und 1194 entstandene Traktat De miseria
humanae conditionis von Lotario dei Conti di Segni (1160/61-1216), der seit 1198
als Papst Innozenz III. amtierte. Die fraglichen Motive behandelt Lotario di Seg-
ni in den Kapiteln 2, 3, 4 und 8 seines Textes (Nietzsche 1998, 144), ohne dass
es sich doch um ein direktes Zitat handeln würde. Vielmehr stammt es ur-
sprünglich aus Friedrich von Räumers Geschichte der Hohenstaufen und ihrer
Zeit und ist eine nicht als Zitat gemeinte Inhaltsparaphrase: „Noch eigenthüm-
licher und bezeichnender sind die Betrachtungen, worin das Elend des
 
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