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286 Zur Genealogie der Moral

der Civilisation das Leiden sei, wodurch der Wille geschwächt und der Geist
gestärkt werde. Sie bildet den Menschen continuirlich um und macht ihn im-
mer empfänglicher für das Leiden. Zugleich läßt sie unablässig durch den Geist
mächtige Motive auf ihn einfließen, welche ihm keine Ruhe geben und sein
Leiden vergrößern." (Mainländer 1876, 242) Die eigentliche empirische Grund-
lage für seine Ausführungen in GM II 7 fand N. - wie Moore 1998, 546 nachge-
wiesen hat - in Charles Richets L'homme et l'intelligence: „Un medecin de mari-
ne m'affirmait avoir vu des negres marcher sur des ulceres sans paraitre souff-
rir, et n'avoir presque pas de sensibilite ä la douleur des operations. Les races
blanches semblent etre bien plus delicates, et ce n'est pas par defaut de coura-
ge qu'un Europeen criera pendant une Operation qu'un negre supporterait sans
sourciller, mais bien parce qu'il souffrira dix fois plus que le negre. Une jeune
femme delicate, nerveuse, elevee ä la ville, ne pourrait pas subir, sans crier et
se debattre, une amputation qu'un matelot, endurci aux fatigues, ou un vieux
paysan, aguerri par les miseres de toutes sortes, subiraient presque sans plain-
te. Il me semble que cette jeune femme aurait beau avoir autant de courage
que le negre ou le matelot, il ne lui serait pas possible de resister, et d'arreter
ses cris. - En un mot, il est une limite ä la douleur que la plus grande force
d'äme ne saurait depasser. [...] Il est probable qu'il y a, suivant les individus, les
races, et les especes, des differences considerables dans la sensibilite ä la dou-
leur: et c'est ainsi qu'on peut en general expliquer les differences que ces indivi-
dus, ces races, et ces especes, presentent dans leur maniere de reagir ä la dou-
leur." (Richet 1884, 8, vgl. auch Orsucci 2002, 315 f. „Ein Marinearzt bestätigte
mir, er habe gesehen, wie Neger auf Geschwüren liefen, ohne dass sie dabei
zu leiden schienen, und dass sie beinah keine Empfindlichkeit gegenüber den
Schmerzen bei Operationen hätten. Die weißen Rassen scheinen viel empfindli-
cher zu sein, und es ist nicht aus Mangel an Mut, dass ein Europäer während
einer Operation schreien wird, die ein Neger ertragen würde, ohne mit der
Wimper zu zucken, sondern weil er zehnmal mehr leiden wird als der Neger.
Eine zarte, nervöse junge Frau, die in der Stadt aufgewachsen ist, könnte keine
Amputation ertragen, ohne zu schreien und zu kämpfen, die ein durch Entbeh-
rung abgehärteter Seemann oder ein durch jegliche Art des Elends abgehärte-
ter alter Bauer beinah klaglos erleiden würde. Es scheint mir, dass diese junge
Frau genauso viel Mut haben könnte wie der Neger oder der Matrose, aber es
wäre ihr nicht möglich, es auszuhalten und ihre Schreie zu stoppen. - Mit
einem Wort, es gibt eine Schmerzgrenze, die die größte Kraft der Seele nicht
überschreiten kann. [...] Es ist wahrscheinlich, dass es je nach Individuen, Ras-
sen und Arten erhebliche Unterschiede in der Schmerzempfindlichkeit gibt: und
so kann man im Allgemeinen die Unterschiede erklären, die diese Individuen,
Rassen und Arten in der Art und Weise haben, wie sie auf Schmerzen reagieren.")
 
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