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288 Zur Genealogie der Moral

leid" und „Furcht" - eine seither vielkritisierte Version (vgl. NK 388, 14-16).
Von Lessing stammt auch die Wendung „tragisches Mitleid": „Denn wenn Aris-
toteles behauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und
Furcht zu reinigen: wer sieht nicht, daß dieses weit mehr sagt, als Dacier zu
erklären für gut befunden? Denn nach den verschiedenen Com-/355/binatio-
nen der hier vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den Sinn des Aristote-
les ganz erschöpfen will, stückweise zeigen: 1. wie das tragische Mitleid unser
Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid
unsere Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne
und wirklich reinige." (Lessing 1867, 6, 354 f.)
304, 3 „les nostalgies de la croix"] Im Singular „Nostalgie de la croix" ist diese
Zeile der Titel eines Gedichtes von Paul Bourget aus dem Zyklus La vie inquiete
(Nachweis bei Campioni 1990, 532 f.; siehe auch Campioni 2001, 209 u. Campio-
ni 2009, 262 f.). Das Gedicht trauert dem verlorenen christlichen Glauben nach;
das lyrische Ich hat darin das Joch des Glaubens und der „sainte Illusion [sic]
du reve baptismal", der „heiligen Illusion des Tauftraumes" nur halbwegs zer-
brochen: Es ist zwar vom Glauben geheilt, aber nicht vom „besoin genereux
du martyre", vom „großmütigen Bedürfnis des Märtyrers" (Bourget [1885], 152).
So intensiv N.s Interesse an Bourgets essayistisch-literaturpsychologischem
Werk (vgl. z. B. NK KSA 6, 9, 1) und auch an seinen Romanen (vgl. z. B. NK
KSA 5, 36, 31-34) gewesen ist, lässt sich eine Lektüre seiner Gedichte, die auch
in N.s Bibliothek fehlen, nicht nachweisen. In seinem Essay über Renan spricht
Bourget von den „nostalgiques delices de la folie de la Croix" (Bourget 1883, 44),
von der „herzbetörenden [...] Sehnsucht nach dem Kreuze" (Bourget 1903, 93). Der
Wendung „nostalgie de la croix" könnte N. auch in anderem Kontext begegnet
sein, so beispielsweise in einem Feuilleton von Emile Blavet alias Parisis vom Ja-
nuar 1884 aus La Vie Parisienne, das von der „invasion" von Paris durch Menschen
aus Südfrankreich handelt, die in der Hauptstadt auch immer Ihresgleichen fän-
den: „s'ils ont la nostalgie de la croix, ils trouvent des ministres - de plus en plus
du Midi - pour fleurir leur boutonniere" (Blavet 1884, 42. ,,[W]enn sie Sehnsucht
nach dem Kreuze haben, finden sie Priester - immer mehr aus Südfrankreich -,
um ihre Knopflöcher zu schmücken". Die Formulierung ist bewusst zweideutig,
denn die Sehnsucht kann sich auch auf das Kreuz der Ehrenlegion beziehen und
die „ministres" können Regierungsmitglieder sein, die es verleihen).
304, 16-21 Mit Hülfe solcher Erfindungen nämlich verstand sich damals das
Leben auf das Kunststück, auf das es sich immer verstanden hat, sich selbst zu
rechtfertigen, sein „ Übel" zu rechtfertigen; jetzt bedürfte es vielleicht dazu andrer
Hülfs-Erfindungen (zum Beispiel Leben als Räthsel, Leben als Erkenntnissprob-
lem).] Die Frage nach der Rechtfertigung wurde in der neuzeitlichen Philoso-
 
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