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298 Zur Genealogie der Moral

fehlte hier noch das vieldeutige Sanskrit-Wort „manas", das bei N. nur in
GM II 8 vorkommt. Die in MA II WS 21 vollzogene Herleitung der Selbstbezeich-
nung des Menschen war damals jedoch bereits unter Nichtphilologen bekannt.
Bemerkenswert ist eine Stelle in Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der
Technik von 1877 - einem Initialwerk der modernen Technikphilosophie, von
dem es bislang freilich keine Anhaltspunkte gab, dass N. es gekannt haben
könnte (vgl. NK 382, 12-14; Bezüge zwischen N. und Kapp stellt gleichwohl
Gerhardt 2021 her). Kapp hält den abschätzenden, messenden Zugriff auf die
physische Gegenstandswelt für ein anthropologisches Charakteristikum: „Mit
Maass und Zahl recognoscirt der Mensch und beherrscht er die Dinge. Ein pri-
mitives Werkzeug, die Zange, dient zum Packen und Festhalten, das thut zur
Noth auch die thierische Klaue — aber mit Mess- und Zahlstab in der Hand
und den Blick auf die Uhr gerichtet zum Festhalten von Zeiträumen und Raum-
zeiten im Calendarium, erreicht der Mensch seine höchste Aufgabe, die
nach dem Sanskritwurzellaut ist, ein Messender zu sein, ein Ermesser und
Denker!" (Kapp 1877, 75) Die dahinterstehenden, sprachhistorischen Befunde
der blühenden Indogermanistik waren dem Philologen N. hingegen selbstver-
ständlich geläufig. Sein Pfortenser Deutschlehrer August Koberstein hatte sich
intensiv mit sprachgeschichtlichen Fragen beschäftigt und dabei auch August
Friedrich Potts Etymologische Forschungen auf dem Gebiete der Indo-Germani-
schen Sprachen herangezogen (Figl 2007, 107). Pott verwendet 15 Seiten darauf,
der Wurzel „mä" mit der Grundbedeutung „zumessen" in all ihren sprachge-
schichtlichen Filiationen - einschließlich „manas" - nachzugehen (Pott 1867,
266-280, vgl. auch Fick 1871, 146 f., 294-296 u. 481, wo freilich zwischen „mä"
für „denken" von „me" für „messen" unterschieden wird). Georg Curtius gibt
in seinen Grundzügen der griechischen Etymologie, auf die N. auch an anderer
Stelle in GM zurückgegriffen haben könnte (vgl. NK 263, 16-18 u. NK 264, 9-15),
das Sanskrit-Wort „man" mit „meinen, glauben, gelten, gedenken, ersehnen"
wieder, „män-as" mit „Sinn, Geist, Wille" (Curtius 1879, 311). „Setzen wir ma
als Grundform, so gewinnen wir auch einen Uebergang vom Tasten zu ma mes-
sen" (ebd., 312). Das Wort „manas" dürfte N. dann noch häufiger in den Schrif-
ten seines indologischen Freundes Paul Deussen untergekommen sein. So sei
bei Qankara „[a]ls Centralorgan der Erkenntnisorgane und Thatorgane das Ma-
nas einerseits das, was wir den Verstand, anderseits was wir den bewuss-
ten Willen nennen" (Deussen 1883, 358). Das Abschätzen und Messen spielt
hier keine explizite Rolle mehr.
Vgl. zu 306, 11-14 - ohne Quellenforschungsanstrengung - auch Hofmann
1994, 62-65; Gerhardt 2011, 248 f.; Giacoia Junior 2011, 161; Bianchi 2016, 159
und Mann 2003, 417 f., der den Passus in den Diskussionskontext um Protago-
ras' homo mensura-Satz stellt, schließlich zur mutmaßlichen Nachwirkung bei
 
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