358 Zur Genealogie der Moral
26-30 ist also streng fokussiert auf die genetische Frage und blendet vollstän-
dig aus, ob wir womöglich gut beraten sein könnten, den Staat, in dem wir
leben, als vertragsförmige Institution zu begreifen und zu legitimieren. Obwohl,
wie gesagt, kein prinzipieller Widerspruch zwischen dem privatrechtlich-
debitorischen Kontraktualismus und dem staatsentstehungshistorischen Anti-
kontraktualismus besteht, klafft da eine Lücke: Während offenbar Schuldner-
Gläubiger-Verhältnisse sich vollständig friedlich vollziehen, bis jemand sei-
nen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, ist bei der
Staatsentstehung nur rohe Überwältigung am Werk, die ganz offenkundig
den Interessen der Überwältigten zuwiderläuft. Dass diese Interessen bei der
plötzlichen Eroberung eine Zeit lang betäubt bleiben, mag plausibel wirken,
aber kann sich ein Staat stabilisieren, wenn die größte Mehrzahl der Menschen
das, was sie für ihre Interessen hält, dauerhaft mit Füßen getreten sieht? Müs-
sen die Überwältigten auf längere Sicht nicht mindestens derart integriert wer-
den, dass der Anschein entsteht, ihre Interessen würden ebenfalls zur Geltung
kommen? Würden sie damit nicht doch noch zu Vertragspartnern, die bei-
spielsweise Wohlverhalten mit Sicherheit kompensiert bekommen? Tongeren
2000, 205 merkt an, dass zwar die Theorien vom ursprünglichen Sozialvertrag
unhistorisch sein mögen, dies aber ebenso für den Staatsherkunftsmythos in
GM gelte. Man sollte freilich die kalkulierte Schockwirkung nicht unterschät-
zen, mit der honorige Vertragstheorien in die Sphäre naiver „Schwärmerei"
verbannt werden, um scheinbar rohe Gewalt an ihre Stelle treten zu lassen:
Wer so schreibt, empfiehlt sich nicht unbedingt selbst als Gewaltprediger, aber
doch als illusionslos-unerbittlicher Aufklärer, dem mit seiner extremen Sicht
zumindest Aufmerksamkeit sicher ist.
325, 9-13 Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht
ist, diese geborenen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-
Egoismus, der wie Erz blickt und sich im „Werke", wie die Mutter in ihrem Kinde,
in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss.] Die Analogisierung von Eroberer,
Herrscher und Künstler hat Jacob Burckhardt in seiner Cultur der Renaissance
in Italien populär werden lassen, als er den ersten Abschnitt übertitelte mit
„Der Staat als Kunstwerk" (Burckhardt 1869b, 1, vgl. NK KSA 6, 246, If.). Aber
Burckhardts Idee war es gerade, dass erst im späten Mittelalter der Grundstein
für diese Auffassung gelegt worden sei, als „eine Menge politischer Gestaltun-
gen — Städte und Gewaltherrscher" auf den Plan traten, in denen „der moder-
ne europäische Staatsgeist zum erstenmal frei seinen eigenen Antrieben hinge-
geben" erscheine; „sie zeigen oft genug die fessellose Selbstsucht in ihren
furchtbarsten Zügen, jedes Recht verhöhnend, jede gesunde Bildung im Keim
erstickend; aber wo diese Richtung überwunden oder irgendwie aufgewogen
wird, da tritt ein neues Lebendiges in die Geschichte: der Staat als berechnete,
26-30 ist also streng fokussiert auf die genetische Frage und blendet vollstän-
dig aus, ob wir womöglich gut beraten sein könnten, den Staat, in dem wir
leben, als vertragsförmige Institution zu begreifen und zu legitimieren. Obwohl,
wie gesagt, kein prinzipieller Widerspruch zwischen dem privatrechtlich-
debitorischen Kontraktualismus und dem staatsentstehungshistorischen Anti-
kontraktualismus besteht, klafft da eine Lücke: Während offenbar Schuldner-
Gläubiger-Verhältnisse sich vollständig friedlich vollziehen, bis jemand sei-
nen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, ist bei der
Staatsentstehung nur rohe Überwältigung am Werk, die ganz offenkundig
den Interessen der Überwältigten zuwiderläuft. Dass diese Interessen bei der
plötzlichen Eroberung eine Zeit lang betäubt bleiben, mag plausibel wirken,
aber kann sich ein Staat stabilisieren, wenn die größte Mehrzahl der Menschen
das, was sie für ihre Interessen hält, dauerhaft mit Füßen getreten sieht? Müs-
sen die Überwältigten auf längere Sicht nicht mindestens derart integriert wer-
den, dass der Anschein entsteht, ihre Interessen würden ebenfalls zur Geltung
kommen? Würden sie damit nicht doch noch zu Vertragspartnern, die bei-
spielsweise Wohlverhalten mit Sicherheit kompensiert bekommen? Tongeren
2000, 205 merkt an, dass zwar die Theorien vom ursprünglichen Sozialvertrag
unhistorisch sein mögen, dies aber ebenso für den Staatsherkunftsmythos in
GM gelte. Man sollte freilich die kalkulierte Schockwirkung nicht unterschät-
zen, mit der honorige Vertragstheorien in die Sphäre naiver „Schwärmerei"
verbannt werden, um scheinbar rohe Gewalt an ihre Stelle treten zu lassen:
Wer so schreibt, empfiehlt sich nicht unbedingt selbst als Gewaltprediger, aber
doch als illusionslos-unerbittlicher Aufklärer, dem mit seiner extremen Sicht
zumindest Aufmerksamkeit sicher ist.
325, 9-13 Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht
ist, diese geborenen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-
Egoismus, der wie Erz blickt und sich im „Werke", wie die Mutter in ihrem Kinde,
in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss.] Die Analogisierung von Eroberer,
Herrscher und Künstler hat Jacob Burckhardt in seiner Cultur der Renaissance
in Italien populär werden lassen, als er den ersten Abschnitt übertitelte mit
„Der Staat als Kunstwerk" (Burckhardt 1869b, 1, vgl. NK KSA 6, 246, If.). Aber
Burckhardts Idee war es gerade, dass erst im späten Mittelalter der Grundstein
für diese Auffassung gelegt worden sei, als „eine Menge politischer Gestaltun-
gen — Städte und Gewaltherrscher" auf den Plan traten, in denen „der moder-
ne europäische Staatsgeist zum erstenmal frei seinen eigenen Antrieben hinge-
geben" erscheine; „sie zeigen oft genug die fessellose Selbstsucht in ihren
furchtbarsten Zügen, jedes Recht verhöhnend, jede gesunde Bildung im Keim
erstickend; aber wo diese Richtung überwunden oder irgendwie aufgewogen
wird, da tritt ein neues Lebendiges in die Geschichte: der Staat als berechnete,