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360 Zur Genealogie der Moral

thumsrecht und Familie" (Stein 1850, 2, 102). Rudolf Meyer schließlich ruft in
seinem Emancipationskampf des vierten Standes in Erinnerung, dass Bakunin
von den revolutionären Akteuren verlange, sie müssten „,den Teufel im Leibe
haben.' Bakunin definirt uns an einer anderen Stelle, was er unter dieser von
ihm oft und gern gebrauchten Redensart versteht: ,den Instinct der Freiheit,
die Leidenschaft der Gleichheit, die heilige Revolte.'" (Meyer 1874-1875, 2, 402)
Im zeitgenössischen Sprachgebrauch ist „Instinkt der Freiheit" also stark klas-
senkämpferisch und sozialistisch kontaminiert, so dass es als abgefeimte poli-
tische Bosheit der Sprecherinstanz von GM erscheinen mag, diesen Instinkt
nicht zu leugnen, jedoch zu behaupten, er sei vom Anfang der Sozialisierungs-
geschichte des Menschen an nach innen umgeleitet worden, anstatt dass er
sich politisch gegen die Herrschenden gewandt hätte: Der auf äußeren Druck
hin fehlgeleitete Freiheitsinstinkt wird dafür verantwortlich gemacht, dass sich
der Mensch elend fühlt, unter schlechtem Gewissen leidet.
Zur Interpretation vgl. Grau 1984, 138 f.; Gerhardt 1996, 212; Müller-Lauter
1999b, 105 f.; Schank 2000, 242; Schacht 2004, 121; Broisson 2006, 127; Wachter
2010, 151 u. Pearson 2016, 21 f. Der „Instinkt der Freiheit" spielt übrigens in der
frühen japanischen N.-Rezeption eine bedeutsame Rolle, siehe Becker 1983,
122 f. u. ö. sowie Oishi 1988, 319. Gasser 1997, 305 f. und Jochen Schmidt in NK
KSA 3, 76, 24 betonen die Verwandtschaft von N.s Überlegung zur Verinnerli-
chung des Freiheitsinstinktes und ähnlichen Überlegungen Sigmund Freuds.

18.
GM II 18 macht zunächst Anstalten, die allenfalls bei den Lesern aufkommende
Abwehrhaltung gegenüber dem als schädlich empfundenen schlechten Gewis-
sen zu zerstreuen. Es verberge sich dahinter ja dieselbe „aktive Kraft" (325, 29),
die auch jene Eroberer-Herrscher-Künstler beseele, die der Welt ihren Stempel
aufdrücken, nur eben könne sich dieser Formungs- und Freiheitsinstinkt bei
den meisten Menschen nicht an äußerem „Stoff" (326, 4) abreagieren und wen-
de sich deshalb gegen den Träger selbst. Da dieser Instinkt nun aber per se als
gewalttätig und grausam gedacht wird, resultiert daraus im Modus der Selbst-
anwendung „Selbst-Vergewaltigung" (326, 8), „Lust am Leidenmachen" (326,
14). Dabei drückt sich in diesem auf das Selbst zurückgewendeten Freiheitsins-
tinkt ein Gestaltungswille aus, sich selbst als Material umzumodeln und in
Form zu bringen (eine Technik, die an die Stoiker erinnert, die N. beispielswei-
se durch Lektüren wie Simplikios 1867 und Weygoldt 1883 vor Augen gestan-
den haben dürften). Dieses „aktivische,schlechte Gewissen'" (326, 15) habe
„eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an's Licht ge-
 
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