372 Zur Genealogie der Moral
worden; dabei hätten sich, wie es in einer Parenthese heißt, mit der Entwick-
lung von „Universal-Reichen" auch „Universal-Gottheiten" herausgebildet
(329, 31 f.). Der christliche Gott als „Maximal-Gott[..]" (330, 3) habe dabei „auch
das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht" (330,
4 f.). GM II 20 schließt mit einer weiteren Hypothese für die Gegenwart und
Zukunft: Gesetzt, die menschliche Geschichte sei in „die umgekehrte Bewe-
gung eingetreten" (330, 5 f.), nämlich eine rapide Abnahme der Überzeugungs-
kraft des christlichen Glaubens und seines Gottes, dann gäbe es - das „Wir"
spricht selbst im Konjunktiv II - auch die „Wahrscheinlichkeit" (330, 7), dass
schon gegenwärtig auch das „Schuldbewusstsein[.]" (330, 10) schwinde. Wenn
der „Atheismus" siege, dürfte er die Menschheit von diesem Schuldbewusst-
sein gänzlich befreien und eine „Art zweiter Unschuld" (330, 14) eintreten.
Auf den ersten Blick liest sich die religions- und moralgenealogische Fort-
setzungsgeschichte schlüssig. Bei näherem Hinsehen treten allerdings Fragen
auf. Zunächst einmal sollen die für die Universalisierung des Gottes- und
Schuldbewusstseins verantwortlichen Sklaven ja die Tradition jener Vorneh-
men aus der „mittlere[n] Zeit" (GM II 19, KSA 5, 328, 32) fortgeschrieben
haben. Dass bei diesen Aristokraten das Schuldbewusstsein gegenüber ihren
Göttern besonders hoch gewesen ist, behauptet nicht einmal GM II 19; im Ge-
genteil haben sie diesen Göttern „vornehme[.] Eigenschaften" (329, 2) zuge-
schrieben und scheinen sich nicht in Schuldkomplexen gewunden zu haben.
Andernorts bei N. wird dieses Verhältnis als Dankbarkeit beschrieben, gerade
im Gegensatz zu den unvornehmen Schuldverdrießlichkeiten (vgl. z.B. NK
KSA 6, 182, 16 f.). Nimmt man die Vornehmen also mit ins Kalkül, kann nach
der eigenen Lesart des in GM II 20 sprechenden „Wir" eigentlich nicht von
einer unaufhaltsam-linearen Zunahme des Schuldverstrickungsempfindens die
Rede sein.
Sodann fragt sich, wieso die Vorstellung hat wachsen können, dass Men-
schen nicht nur im Allgemeinen schuldig sind gegenüber der Gottheit, der sie
ihr Sein und So-Sein verdanken, sondern warum sich diese Vorstellung
zwangsläufig immer mehr in Richtung einer völlig Unabzahlbarkeit der Schuld
entwickelt haben soll. Natürlich ist es richtig, dass das Christentum - was
GM II 21 ausführlicher thematisieren wird - die Idee kultiviert hat, dass wir
gegenüber Gott in einem Schuldverhältnis stehen. Zugleich besteht die Pointe
des Christentums aber gerade darin, diese Schuld durch Christi Heilstat für
getilgt zu halten, die den Menschen in den Stand des Gerechtfertigtseins ver-
setzt. Die Schuld wird im „Maximal-Gott" - und durch diesen - gerade aufge-
hoben. Damit war die Schuld-Gläubiger-Logik zumindest im Ansatz ad absur-
dum geführt, so sehr das praktische Christentum seinen Gläubigen stets nahe-
gelegt hat, sich als Sünder zu fühlen.
worden; dabei hätten sich, wie es in einer Parenthese heißt, mit der Entwick-
lung von „Universal-Reichen" auch „Universal-Gottheiten" herausgebildet
(329, 31 f.). Der christliche Gott als „Maximal-Gott[..]" (330, 3) habe dabei „auch
das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht" (330,
4 f.). GM II 20 schließt mit einer weiteren Hypothese für die Gegenwart und
Zukunft: Gesetzt, die menschliche Geschichte sei in „die umgekehrte Bewe-
gung eingetreten" (330, 5 f.), nämlich eine rapide Abnahme der Überzeugungs-
kraft des christlichen Glaubens und seines Gottes, dann gäbe es - das „Wir"
spricht selbst im Konjunktiv II - auch die „Wahrscheinlichkeit" (330, 7), dass
schon gegenwärtig auch das „Schuldbewusstsein[.]" (330, 10) schwinde. Wenn
der „Atheismus" siege, dürfte er die Menschheit von diesem Schuldbewusst-
sein gänzlich befreien und eine „Art zweiter Unschuld" (330, 14) eintreten.
Auf den ersten Blick liest sich die religions- und moralgenealogische Fort-
setzungsgeschichte schlüssig. Bei näherem Hinsehen treten allerdings Fragen
auf. Zunächst einmal sollen die für die Universalisierung des Gottes- und
Schuldbewusstseins verantwortlichen Sklaven ja die Tradition jener Vorneh-
men aus der „mittlere[n] Zeit" (GM II 19, KSA 5, 328, 32) fortgeschrieben
haben. Dass bei diesen Aristokraten das Schuldbewusstsein gegenüber ihren
Göttern besonders hoch gewesen ist, behauptet nicht einmal GM II 19; im Ge-
genteil haben sie diesen Göttern „vornehme[.] Eigenschaften" (329, 2) zuge-
schrieben und scheinen sich nicht in Schuldkomplexen gewunden zu haben.
Andernorts bei N. wird dieses Verhältnis als Dankbarkeit beschrieben, gerade
im Gegensatz zu den unvornehmen Schuldverdrießlichkeiten (vgl. z.B. NK
KSA 6, 182, 16 f.). Nimmt man die Vornehmen also mit ins Kalkül, kann nach
der eigenen Lesart des in GM II 20 sprechenden „Wir" eigentlich nicht von
einer unaufhaltsam-linearen Zunahme des Schuldverstrickungsempfindens die
Rede sein.
Sodann fragt sich, wieso die Vorstellung hat wachsen können, dass Men-
schen nicht nur im Allgemeinen schuldig sind gegenüber der Gottheit, der sie
ihr Sein und So-Sein verdanken, sondern warum sich diese Vorstellung
zwangsläufig immer mehr in Richtung einer völlig Unabzahlbarkeit der Schuld
entwickelt haben soll. Natürlich ist es richtig, dass das Christentum - was
GM II 21 ausführlicher thematisieren wird - die Idee kultiviert hat, dass wir
gegenüber Gott in einem Schuldverhältnis stehen. Zugleich besteht die Pointe
des Christentums aber gerade darin, diese Schuld durch Christi Heilstat für
getilgt zu halten, die den Menschen in den Stand des Gerechtfertigtseins ver-
setzt. Die Schuld wird im „Maximal-Gott" - und durch diesen - gerade aufge-
hoben. Damit war die Schuld-Gläubiger-Logik zumindest im Ansatz ad absur-
dum geführt, so sehr das praktische Christentum seinen Gläubigen stets nahe-
gelegt hat, sich als Sünder zu fühlen.