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Stellenkommentar GM II 21, KSA 5, S. 329-330 377

poniert diese christliche Vorstellung der Wiederherstellung der ursprüngli-
chen, paradiesischen, im Sündenfall verlorenen Unschuld durch Christi Erlö-
sungstat ins Säkulare und damit in ihr Gegenteil: Erst durch die Überwindung
Gottes kann auch die Schuld überwunden werden, kann auch die Lust des
Schuldgefühls getilgt werden, das für den Moralgenealogen eben keineswegs
auf ein objektives Schuldigsein verweist. Es sieht so aus, als ob die Philoso-
phen (der Zukunft), die mit diesem Atheismus ernstmachen, in die Rolle der
Erlöser schlüpfen würden. Masini 1988 versucht das Motiv der zweiten Un-
schuld nihilismushermeneutisch zu verorten (dazu Reckermann 2003, 126).
Vgl. auch die in NK 328, 27 f. mitgeteilte Lippert-Stelle über die Erfindung des
Atheismus aus übergroßer Angst vor den Göttern nach einer Beobachtung von
Plutarch. Atheismus erscheint dabei als eine Art Übersprungsreaktion.
330, 13 causa prima] Lateinisch: „erste Ursache". In der aristotelischen Über-
formung der christlichen Theologie wird Gott als Erste Ursache gedacht.

21.
Die in GM II 20 gegebene Aussicht auf eine durch die Emanzipation vom Glau-
ben an den christlichen Gott erreichte neue „Unschuld" (330, 14) wird in
GM II 21 wieder zurückgenommen, und zwar, weil die „Moralisirung der Begrif-
fe Schuld und Pflicht" (330, 28) vom Ausflackern des christlichen Gottesglau-
bens unberührt bleibt, ja sich umso mehr Gehör zu verschaffen scheint, je
mehr der religiös-christliche Hintergrund verfällt. Diese Moralisierung er-
scheint als Reaktion, als „Versuch", „die Richtung der eben beschriebenen Ent-
wicklung umzukehren" (330, 30 f.). Sie bedeutet, dass nun alles Leben und
Handeln unter das Menetekel einer unabzahlbaren Schuld gestellt wird: Leben
als solches erscheint im trüben Licht dieser Moralisierung recht eigentlich als
Schuld, aus der es kein Entrinnen gibt. Und dieses Schuldbewusstsein ist das,
was sich im schlechten Gewissen einfrisst und krebsartig ausbreitet. Die Bei-
spiele, die GM II 21 dafür an die Hand gibt, sind trotzdem zunächst religiös-
christliche - die Ideenkomplexe der ewigen Höllenstrafe, der Ur- und Erbsünde
Adams sowie der Verderbtheit der Natur. Die Argumentation bleibt freilich
nicht auf das Christliche und Abendländische beschränkt; offenbar haben wir
es mit einem globalen Kulturentwicklungsmuster zu tun: Das Unwertsein des
Seins, das Streben nach dem Nichts finde gerade im Buddhismus beredten
Ausdruck (331, 20). Die in NK ÜK GM II 20 bereits angesprochene Heilstat Chris-
ti wird am Ende von GM II 21 nun gerade nicht als erlösende Aufhebung aller
 
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