Stellenkommentar GM II 23, KSA 5, S. 333 387
zunächst unerklärlicher menschlicher Greueltaten. Die Lösung habe schließ-
lich darin bestanden, einen Gott, göttliche Besessenheit für das Schlimme ver-
antwortlich zu machen: Für die Griechen seien Götter als „Ursachen des Bö-
sen" beansprucht worden - „damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, son-
dern, wie es vornehmer ist, die Schuld..." (335, lf.).
In der Absicht, den Gegensatz von aristokratischem Griechentum und pö-
belhaftem Christentum möglichst drastisch erscheinen zu lassen, bietet
GM II 23 eine quasi divinatorische Lesart der griechischen Religionsgeschichte
an: Die bei Homer beginnenden, wiederholten Versuche, die Götter von der
Verantwortung für die Schlechtigkeit freizusprechen, wird gerade als Beleg da-
für genommen, was „der vornehme Grieche" (334, 27) eigentlich über die Göt-
ter gedacht habe - eben das Gegenteil des vom Homerischen Zeus Verlangten,
nämlich Seinesgleichen nicht mit Anschuldigungen zu behelligen. Methodisch
ist dieses Vorgehen nicht unproblematisch, weil man aus Zeus' Verlangen zwar
schließen kann, manche Griechen hätten den Göttern die Schuld für alles
menschliche Ungemach gegeben, aber nicht, wie stark verbreitet eine solche
Vorstellung war (früher war stattdessen davon die Rede, dass sich die griechi-
schen Götter an der Grausamkeit ergötzt hätten, vgl. NK 304, 21-31). Im Chris-
tentum wird der Verdacht, Gott könne am Übel schuld sein, ebenfalls immer
wieder von den rührigen Sachwaltern dieses Gottes zurückgewiesen, ohne dass
die Sprecherinstanz von GM II 23 daraus den analogen Schluss zöge, ,eigent-
lich' würden auch die Christen ihrem Gott die Schuld anlasten und ihn nicht
nur für die Schuld der andern sterben lassen. GM II 22 leitet aus einer offen-
sichtlichen, extremen Erscheinungsform des Christentums - der selbstankläge-
rischen Armsünderzerknirschung - das eigentliche Wesen dieser Religion ab,
während GM II 23 aus dem Nicht-Offensichtlichen, nämlich ex negativo aus der
Kritik, das Wesen des griechischen ,Heidentums' zu erschließen sich anhei-
schig macht. Diese Zugangsdiskrepanz macht einen Vergleich zumindest an-
fechtbar.
Fußend auf GM II 23 könnte man Religionen danach kategorisieren, ob sie
als Kreditbeziehungsreligion oder als Tauschbeziehungsreligion funktionieren.
Das Christentum erschiene als die klassische Kreditbeziehungsreligion: Es er-
zeugt langfristige, längstfristige Kreditbeziehungen - angefangen im Paradies
mit dem Urelternpaar über Christi Erlösungstat bis hin zu Jüngstem Gericht,
Himmel und Hölle -, und es erzeugt damit höchste Verbindlichkeiten zwischen
Schuldner (Mensch) und Gläubiger (Gott). Hingegen wäre das ,Heidentum' bei-
spielsweise in griechischer Ausprägung eine klassische Tauschbeziehungsreli-
gion: Entweder erduldet man Übel und verunglimpft die Götter dafür, oder
man bekommt eine Wohltat, ein Gelingen und opfert, zeigt sich dankbar. Die
Wohltat der Gottheit ist abgegolten und das Geschäft erledigt - man häuft kei-
zunächst unerklärlicher menschlicher Greueltaten. Die Lösung habe schließ-
lich darin bestanden, einen Gott, göttliche Besessenheit für das Schlimme ver-
antwortlich zu machen: Für die Griechen seien Götter als „Ursachen des Bö-
sen" beansprucht worden - „damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, son-
dern, wie es vornehmer ist, die Schuld..." (335, lf.).
In der Absicht, den Gegensatz von aristokratischem Griechentum und pö-
belhaftem Christentum möglichst drastisch erscheinen zu lassen, bietet
GM II 23 eine quasi divinatorische Lesart der griechischen Religionsgeschichte
an: Die bei Homer beginnenden, wiederholten Versuche, die Götter von der
Verantwortung für die Schlechtigkeit freizusprechen, wird gerade als Beleg da-
für genommen, was „der vornehme Grieche" (334, 27) eigentlich über die Göt-
ter gedacht habe - eben das Gegenteil des vom Homerischen Zeus Verlangten,
nämlich Seinesgleichen nicht mit Anschuldigungen zu behelligen. Methodisch
ist dieses Vorgehen nicht unproblematisch, weil man aus Zeus' Verlangen zwar
schließen kann, manche Griechen hätten den Göttern die Schuld für alles
menschliche Ungemach gegeben, aber nicht, wie stark verbreitet eine solche
Vorstellung war (früher war stattdessen davon die Rede, dass sich die griechi-
schen Götter an der Grausamkeit ergötzt hätten, vgl. NK 304, 21-31). Im Chris-
tentum wird der Verdacht, Gott könne am Übel schuld sein, ebenfalls immer
wieder von den rührigen Sachwaltern dieses Gottes zurückgewiesen, ohne dass
die Sprecherinstanz von GM II 23 daraus den analogen Schluss zöge, ,eigent-
lich' würden auch die Christen ihrem Gott die Schuld anlasten und ihn nicht
nur für die Schuld der andern sterben lassen. GM II 22 leitet aus einer offen-
sichtlichen, extremen Erscheinungsform des Christentums - der selbstankläge-
rischen Armsünderzerknirschung - das eigentliche Wesen dieser Religion ab,
während GM II 23 aus dem Nicht-Offensichtlichen, nämlich ex negativo aus der
Kritik, das Wesen des griechischen ,Heidentums' zu erschließen sich anhei-
schig macht. Diese Zugangsdiskrepanz macht einen Vergleich zumindest an-
fechtbar.
Fußend auf GM II 23 könnte man Religionen danach kategorisieren, ob sie
als Kreditbeziehungsreligion oder als Tauschbeziehungsreligion funktionieren.
Das Christentum erschiene als die klassische Kreditbeziehungsreligion: Es er-
zeugt langfristige, längstfristige Kreditbeziehungen - angefangen im Paradies
mit dem Urelternpaar über Christi Erlösungstat bis hin zu Jüngstem Gericht,
Himmel und Hölle -, und es erzeugt damit höchste Verbindlichkeiten zwischen
Schuldner (Mensch) und Gläubiger (Gott). Hingegen wäre das ,Heidentum' bei-
spielsweise in griechischer Ausprägung eine klassische Tauschbeziehungsreli-
gion: Entweder erduldet man Übel und verunglimpft die Götter dafür, oder
man bekommt eine Wohltat, ein Gelingen und opfert, zeigt sich dankbar. Die
Wohltat der Gottheit ist abgegolten und das Geschäft erledigt - man häuft kei-