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414 Zur Genealogie der Moral

gen namentlich in der Geburt der Tragödie, gerade die weltumgestaltende
Macht der Kunst gegen alle bloß reträtistische Kontemplationsästhetik stark zu
machen.
Die Kunst hat in GM III 4 und überhaupt in N.s Spätwerk als Lebensmacht
einen schweren Stand (zur starken Relativierung der Kunst und der Künstler-
rolle im Spätwerk verglichen mit N.s Frühwerk siehe z. B. Schellong 1999, 250
u. Stephan 2016, 457-460). Aber beweist GM III 4 das, was bewiesen werden
soll, dass also der Künstler notwendig verunglückt, wenn er die Sphäre der
Kunst verlässt und in die Welt gehen will? Mehr als das eine Beispiel, eben
Wagner, und die Behauptung, dass dieses Beispiel „typisch" sei, wird zur Be-
glaubigung jedenfalls nicht beigebracht.
Schließlich ist auch die argumentative Verbindung der Ausgangshypothe-
se, wonach Kunstwerk und Künstler prinzipiell zu unterscheiden seien, mit der
Schlussfolgerung, dass der Künstler mit seinen Ambitionen in der realen Welt
scheitern müsste, ziemlich dünn. Gerade wenn zwischen Künstler und Kunst-
werk nur eine genetische Beziehung besteht, ist der Künstler an seine bisheri-
gen Werke in keiner Weise normativ gebunden und er könnte doch - wie Wag-
ner im Parsifal - immer etwas Neues ausprobieren. Dass dieses letzte große
Werk Wagners ein freventlicher Ausgriff auf die Welt außerhalb der Kunst ge-
wesen sei, wird nur behauptet, nicht bewiesen. Zunächst ist es einfach nur ein
weiteres Werk. Dass sich Wagner darin vielleicht das asketische Ideal zueigen
gemacht hat, das ihm früher fremd gewesen ist, muss gegen das Kunstwerk
nichts beweisen, zumal es ja nach GM III 3, KSA 5, 342, 25-30 früher einfach
nur ein anderes, anscheinend nichtasketisches Ideal gewesen ist, das sein
Kunstschaffen lenkte.
343, 10-16 man thut gewiss am besten, einen Künstler in so weit von seinem
Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk.
Er ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks, der Mutterschooss, der Bo-
den, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst, — und
somit, in den meisten Fällen, Etwas, das man vergessen muss, wenn man sich
des Werks selbst erfreuen will] Kofman 1994, 203 macht auf die sowohl positive
als auch negative Konnotation des „Bodens" in GM III 4 aufmerksam: „[I]t is
the medium that allows the work to grow; yet sometimes it is manure—fertile,
but nauseatingly smelly. In order to rejoice in the art work's beauty, it is best
to forget its genesis—the disgusting and repugnant conditions of its existence."
343, 13 Mutterschooss] Fälschlich heißt es in KSA 5, 343, 13: „Mutterschoos".
Das ist ein Druckfehler; in der Erstausgabe steht unmissverständlich: „Mutter-
schooss" (Nietzsche 1887a, 101).
343, 22 feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht] Im Druckmanu-
skript steht stattdessen: „rücksichtsloses Abseits von aller Helle und Herrlich-
 
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