416 Zur Genealogie der Moral
Achilles und Homer: der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere
beschreibt sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfah-
rung Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er empfun-
den hat, viel zu errathen." (KSA 2, 172, 19-21) Was die Sprecherinstanz freilich
am Ende des Aphorismus nicht von der Schlussfolgerung abhält: „Künstler
sind häufig zügellose Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber
das ist etwas Anderes." (KSA 2, 173, 4-6).
344, 11 Velleität] „Velleität (neulat., v. lat. velle, wollen; franz, velleite),
kraft- und thatloser Wille, Anwandlung." (Meyer 1885-1892, 16, 70) In der Auf-
zeichnung NL 1885, KSA 11, 34[185], 484, 1-16 (entspricht KGW IX 1, N VII 1,
66, 2-42 u. 65, 28-34) wird „Velleität" mit „Willelei" übersetzt (vgl. NK 5/1,
S. 131). Als sich N. am 29. 03. 1887 im Brief an Theodor Fritsch die weitere Zu-
sendung der Antisemitischen Correspondenz verbat, tat er dies, weil er fürchte-
te, deren unsägliche Inhalte könnten ihn „aus dem ironischen Wohlwollen he-
rausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäis-
men der jetzigen Deutschen zugesehen habe" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 823, S. 51,
Z. 19-22). „Velleität" scheint für Künstler (wie Wagner) und Deutsche (wie Wag-
ner) gleichermaßen kennzeichnend - sie können sich nicht zu wirklichem Wol-
len durchringen. Vgl. auch Müller-Lauter 1999b, 15.
5.
GM III 5 schließt die Antwort auf die Frage, was asketische Ideale für den
Künstler bedeuten, erneut unter Rückgriff auf Wagner ab und leitet zum Prob-
lem über, was sie denn für die Philosophen bedeuten, wobei Schopenhauer,
der späte philosophische Inspirator Wagners, ins Blickfeld rückt, und zwar zu-
nächst mit seinen ästhetischen Überlegungen. Asketische Ideale würden für
die Künstler also nichts oder vieles bedeuten, so dass diese fortan außer Be-
tracht bleiben sollen. Denn Künstler seien nie etwas anderes gewesen als
„Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion" (344, 29 f., vgl.
FW 1, KSA 3, 371, 2 f.: „Die Poeten zum Beispiel waren immer die Kammerdie-
ner irgend einer Moral"), stets fremder Autorität bedürftig. Und wiederum wird
Wagner als Paradebeispiel angeführt: Er habe sich unter die Fittiche Schopen-
hauers begeben, sei dessen kulturprägend gewordenem Einfluss erlegen, hätte
er doch von sich aus nie „den Muth zu einem asketischen Ideal gehabt" (345,
8). Hier sei man jetzt bei der eigentlich relevanten Frage angelangt, was es
nämlich bedeute, wenn „ein wirklicher Philosoph dem asketischen Ideale"
(345, 15 f.) huldige. Dabei gilt als Philosoph ein tatsächlich völlig auf sich ge-
Achilles und Homer: der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere
beschreibt sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfah-
rung Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er empfun-
den hat, viel zu errathen." (KSA 2, 172, 19-21) Was die Sprecherinstanz freilich
am Ende des Aphorismus nicht von der Schlussfolgerung abhält: „Künstler
sind häufig zügellose Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber
das ist etwas Anderes." (KSA 2, 173, 4-6).
344, 11 Velleität] „Velleität (neulat., v. lat. velle, wollen; franz, velleite),
kraft- und thatloser Wille, Anwandlung." (Meyer 1885-1892, 16, 70) In der Auf-
zeichnung NL 1885, KSA 11, 34[185], 484, 1-16 (entspricht KGW IX 1, N VII 1,
66, 2-42 u. 65, 28-34) wird „Velleität" mit „Willelei" übersetzt (vgl. NK 5/1,
S. 131). Als sich N. am 29. 03. 1887 im Brief an Theodor Fritsch die weitere Zu-
sendung der Antisemitischen Correspondenz verbat, tat er dies, weil er fürchte-
te, deren unsägliche Inhalte könnten ihn „aus dem ironischen Wohlwollen he-
rausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäis-
men der jetzigen Deutschen zugesehen habe" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 823, S. 51,
Z. 19-22). „Velleität" scheint für Künstler (wie Wagner) und Deutsche (wie Wag-
ner) gleichermaßen kennzeichnend - sie können sich nicht zu wirklichem Wol-
len durchringen. Vgl. auch Müller-Lauter 1999b, 15.
5.
GM III 5 schließt die Antwort auf die Frage, was asketische Ideale für den
Künstler bedeuten, erneut unter Rückgriff auf Wagner ab und leitet zum Prob-
lem über, was sie denn für die Philosophen bedeuten, wobei Schopenhauer,
der späte philosophische Inspirator Wagners, ins Blickfeld rückt, und zwar zu-
nächst mit seinen ästhetischen Überlegungen. Asketische Ideale würden für
die Künstler also nichts oder vieles bedeuten, so dass diese fortan außer Be-
tracht bleiben sollen. Denn Künstler seien nie etwas anderes gewesen als
„Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion" (344, 29 f., vgl.
FW 1, KSA 3, 371, 2 f.: „Die Poeten zum Beispiel waren immer die Kammerdie-
ner irgend einer Moral"), stets fremder Autorität bedürftig. Und wiederum wird
Wagner als Paradebeispiel angeführt: Er habe sich unter die Fittiche Schopen-
hauers begeben, sei dessen kulturprägend gewordenem Einfluss erlegen, hätte
er doch von sich aus nie „den Muth zu einem asketischen Ideal gehabt" (345,
8). Hier sei man jetzt bei der eigentlich relevanten Frage angelangt, was es
nämlich bedeute, wenn „ein wirklicher Philosoph dem asketischen Ideale"
(345, 15 f.) huldige. Dabei gilt als Philosoph ein tatsächlich völlig auf sich ge-