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420 Zur Genealogie der Moral

dem es bereits vor über dreissig Jahren erschienen war. [...] Ich fühlte mich
sofort von dem Werke bedeutungsvoll angezogen, und widmete mich alsbald
dem Studium desselben. Zu wiederholten Malen hatte mir ein inneres Bedürf-
niss das Verlangen eingegeben, die eigentliche Bedeutung der Philosophie mir
verständlich zu machen. [...] Nun fesselte mich sofort, äusser dem Interesse für
das sonderbare Schicksal dieses Buches, die grosse Klarheit und männliche
Präzision, welche ich vom ersten Beginne bei der in ihm enthaltenen Erörte-
rung der schwierigsten metaphysischen Probleme antraf. [...] /604/ [...] Wie
jedem leidenschaftlich durch das Leben Erregten es ergehen wird, suchte auch
ich zunächst nach der Konklusion des Schopenhauer'schen System's; befriedig-
te mich die ästhetische Seite desselben vollkommen, und überraschte mich
hier namentlich die bedeutende Auffassung der Musik, so erschreckte mich
doch, wie jeder in meiner Stimmung Befindliche es erfahren wird, der der Mo-
ral zugewandte Abschluss des Ganzen, weil hier die Ertödtung des Willen's,
die vollständigste Entsagung, als einzige wahre und letzte Erlösung aus den
Banden der, nun erst deutlich empfundenen, individuellen Beschränktheit in
der Auffassung und Begegnung der Welt gezeigt wird. Für denjenigen, welcher
sich aus der Philosophie eine höchste Berechtigung für politische und sociale
Agitationen zu Gunsten des sogenannten ,freien Individuums', gewinnen woll-
te, war allerdings hier gar nichts zu holen, und die vollständigste Ablenkung
von diesem Wege zur Stillung des Triebes der Persönlichkeit war einzig gefor-
dert. Diess wollte denn auch mir für das Erste durchaus nicht munden, und so
schnell glaubte ich der sogenannten ,heiteren' griechischen Weltanschauung,
aus welcher ich auf mein ,Kunstwerk der Zukunft' geblickt hatte, mich nicht
entschlagen zu dürfen. Wirklich war es Herwegh, welcher mit einem gewichti-
gen Worte mich zunächst zur Besonnenheit gegen meine Empfindlichkeit ver-
anlasste. Durch diese Einsicht in die Nichtigkeit der Erscheinungswelt — so
meinte er — sei ja eben alle Tragik bestimmt, und intuitiv müsse sie jedem
grossen Dichter, ja jedem grossen Menschen überhaupt, inne gewohnt haben.
Ich blickte auf mein Nibelungen-Gedicht, und erkannte zu meinem Erstaunen,
dass das, was mich jetzt in der Theorie so befangen machte, in meiner eigenen
poetischen Konzeption mir längst vertraut geworden war. So verstand ich erst
selbst meinen ,Wotan', und ging nun erschüttert von Neuem an das genauere
Studium des Schopenhauer'schen Buches. Jetzt erkannte ich, dass es vor allem
darauf ankam, den ersten Theil desselben, die Erklärung und erweiterte Dar-
stellung der Kant'schen Lehre von der Idealität der bisher in Zeit und Raum so
real gegründet erschienenen Welt zu verstehen, und meinen ersten Schritt auf
dem Wege dieses Verständnisses glaubte ich nun schon durch die Erkenntniss
der ungemeinen Schwierigkeit derselben gethan zu haben. Von jetzt an verliess
mich das Buch viele Jahre hindurch nie gänzlich, und bereits im Sommer des
 
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