Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
428 Zur Genealogie der Moral

sowohl im Druckmanuskript (GSA 71/27,2, fol. 9r) als auch in der Erstausgabe
„desinteressement" (Nietzsche 1887a, 106) steht. An der fraglichen Stelle fehlt
bei Stendhal der Ausdruck „desinteressement"; N. konnte ihn aber beispiels-
weise in Alfred Fouillees La sociologie contemporaine (Quellenauszug in NK
KSA 6, 133, 28-30) und in Jean-Marie Guyaus Esquisse d'une morale sans Obli-
gation ni sanction finden (Quellenauszug in NK KSA 5, 154, 27-155, 13). Came
2009 will Schopenhauers Ästhetik als phänomenal reichhaltiger gegen die ihm
in GM III 6 angeblich von Nietzsche (und Janaway 2007a, 186-201) unterstellte
Fixierung auf „disinterestedness" in Schutz nehmen. Zur Interpretation des in
GM III 6 konstruierten Gegensatzes von Kant und Stendhal siehe Constäncio
2017.
347, 16-23 Wenn freilich unsre Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten
Kant's in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit
sogar gewandlose weibliche Statuen „ohne Interesse" anschauen könne, so darf
man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen: — die Erfahrungen der Künstler
sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt „interessanter", und Pygmalion war je-
denfalls nicht nothwendig ein „unästhetischer Mensch".] Kant vermerkt in der
Kritik der Urteilskraft zur „Bildhauerkunst" nur, sie sei diejenige Kunst, „wel-
che Begriffe von Dingen, so wie sie in der Natur existiren könnten, körperlich
darstellt (doch als schöne Kunst mit Rücksicht auf ästhetische Zweckmäßig-
keit)", es sei „der bloße Ausdruck ästhetischer Ideen die Hauptabsicht" der
„Bildsäulen von Menschen, Göttern, Thieren u. d. gl." (AA V, 322). Plastisch
dargestellte weibliche Nacktheit, die Lüsternheit erregen und die interesselose
Anschauung trüben könnte, wird schamhaft ausgeklammert. Ganz anders hin-
gegen bei Schopenhauer, der in der Kunst „nur zwei Arten des Reizenden"
findet - „und beide ihrer unwürdig. Die eine, recht niedrige, im Stillleben der
Niederländer, wenn es sich dahin verirrt, daß die dargestellten Gegenstände
Eßwaaren sind, die durch ihre täuschende Darstellung nothwendig den Appe-
tit darauf erregen, welches eben eine Aufregung des Willens ist, die jeder äs-
thetischen Kontemplation des Gegenstandes ein Ende macht. [...] - In der His-
torienmalerei und Bildhauerei besteht das Reizende in nackten Gestalten, de-
ren Stellung, halbe Bekleidung und ganze Behandlungsart darauf hinzielt im
Beschauer Lüsternheit zu erregen, wodurch die rein ästhetische Betrachtung
sogleich aufgehoben, also dem Zweck der Kunst entgegengearbeitet wird. Die-
ser Fehler entspricht ganz und gar dem soeben an den Niederländern gerügten.
Die Antiken sind, bei aller Schönheit und völliger Nacktheit der Gestalten, fast
immer davon frei, weil der Künstler selbst mit rein objektivem, von der idealen
Schönheit erfülltem Geiste /246/ sie schuf, nicht im Geiste subjektiver, schnö-
der Begierde. - Das Reizende ist also in der Kunst überall zu vermeiden."
(Schopenhauer 1874-1874, 2, 245 f.)
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften