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434 Zur Genealogie der Moral

raum zum Denken zu schaffen. Andererseits sind sie auf ein Rollenmuster an-
gewiesen, das sie schützt. Sie unterhalten eigentlich ein rein instrumentelles
Verhältnis zum asketischen Ideal, scheinbar im Unterschied zu den Priestern
in GM III 11, für die das asketische Ideal Zweck wird (aber letztlich doch nur
Zweck, insofern es den Priestern hilft, das Leidensleben zu bewältigen - womit
sie es auch schon wieder instrumentalisieren). Am Ende von GM III 10 eröffnet
sich die Aussicht, dass der zukünftige Philosoph vielleicht gar kein asketisches
Ideal, keinen Schutzraum mehr brauchen werde (vgl. z. B. Migotti 2013, der
die vermeintliche Diskrepanz zwischen GM III 7 und 8 sowie GM III 9 und 10
untersucht, wonach die Philosophen zunächst vom asketischen Ideal der Pries-
ter geschieden erscheinen und ihm dann doch angenähert werden). Wird der
zukünftige Philosoph sich von den Beschränkungen des asketischen Ideals
freigemacht haben? Wird er ein dionysischer Philosoph sein, der ganz andere
Mittel hat? Wäre er wirklich stark, müsste er nicht mehr den Asketen spielen -
und die Priesterrolle würde ihn ohnehin nicht mehr schützen.
Von Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufidärung in Euro-
pa ist N. nach Ausweis seiner Lesespuren auf die Unterscheidung zwischen
einer „asketische[n]" und einer „industrielle[n] Philosophie" aufmerksam ge-
macht worden, die „zu allen Zeiten zwei der wichtigsten Abtheilungen der
menschlichen Meinungen gebildet" habe: „Das Losungswort der ersten Philo-
sophie heisst Selbstverläugnung, das der zweiten, Entwickelung. Die erste
sucht die Begierden zu verringern, die andere zu vermehren; die erste erkennt
die Glückseligkeit als einen Gemüthszustand und sucht sie desswegen durch
unmittelbare Einwirkung auf das Gemüth, die zweite durch Einwirkung auf die
äusseren Verhältnisse zu erreichen. Die erste giebt den Gefühlen eine grössere
Stärke und erzeugt die hingehendsten Menschen, die zweite lenkt die vereinte
Thätigkeit der Gesellschaft und bewirkt dadurch die höchstmögliche sociale
Ausgleichung. Die erste hat sich dem Bildungsstande von Asien und Aegypten,
die zweite dem von Europa am entsprechendsten erwiesen. / Von dem Anfang
des vierten Jahrhunderts, als das Mönchssystem zuerst von Aegypten her in die
Christenheit eingeführt wurde, bis beinahe zur Reformation war die asketische
Theorie überall vorherrschend" (Lecky 1873, 2, 288. N.s Unterstreichungen, mit
Randstrichen markiert).
349, 19-22 Schopenhauer, der die Geschlechtlichkeit in der That als persönli-
chen Feind behandelt hat (einbegriffen deren Werl<zeug, das Weib, dieses „instru-
mentum diaboli")] Die Vorstellung, dass die Frau ein „Werkzeug des Teufels"
sei, zumal die erste Frau - Eva - im Paradies mit der Schlange gemeinsame
Sache machte, reicht schon in frühchristliche und gnostische Zeit zurück (vgl.
zur Übersicht Pesthy 2005). Im 19. Jahrhundert wurde das Motiv in der Deca-
dence-Literatur bei Charles Baudelaire und Joris-Karl Huysmans aufgegriffen
 
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