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438 Zur Genealogie der Moral

Ethik 1095a 18 f.), lässt sich als Parallelaktion zur Klammerbemerkung 350, 6 f.
lesen, wo die unterschiedliche philosophische Begabung in England und in
Indien thematisiert wird. In GD Sprüche und Pfeile 12, KSA 6, 61, If. wird dann
beides tatsächlich zusammengedacht: „Der Mensch strebt nicht nach Glück;
nur der Engländer thut das."
350, 28-351, 4 Dergestalt perhorreszirt der Philosoph die Ehe sammt dem, was
zu ihr überreden möchte, — die Ehe als Hinderniss und Verhängniss auf seinem
Wege zum Optimum. Welcher grosse Philosoph war bisher verheirathet? Heraklit,
Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer — sie waren es nicht;
mehr noch, man kann sie sich nicht einmal denken als verheirathet. Ein verhei-
ratheter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Aus-
nahme Sokrates, der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheirathet,
eigens um gerade diesen Satz zu demonstriren.] Das „Optimum" des Philoso-
phen bestehe also offensichtlich nicht darin, sich biologisch zu reproduzieren,
sondern seine extraordinäre Lebensform selbst idealtypisch zu verkörpern. Da-
bei kann GM III 7 ebenso großzügig darüber hinweggehen, dass die Philoso-
phiegeschichte von Aristoteles bis Hegel eine stattliche Zahl verheirateter Be-
rühmtheiten aufzuweisen hat, als auch darüber, dass N. selbst vielfältige An-
strengungen unternommen hat - nicht nur im bekanntesten Fall von Lou von
Salome -, unter die Haube zu kommen. Was Sokrates' sprichwörtlich schlechte
Ehe mit der angeblich so zänkischen Xanthippe angeht, so gibt es dafür bereits
eine Fülle antiker Zeugnisse, die allesamt in einer sehr ausführlichen Fußnote
im Sokrates-Band von Eduard Zellers Die Philosophie der Griechen aufgelistet
und besprochen sind (Zeller 1859, 46-48, Fn. 3, zu Xanthippes eigener Gegen-
darstellung in den Fragmenta uxorum philosophorum siehe Sommer 2012i,
89 f.). Übliche philosophiehistorische Meinung ist, dass die Ehe Sokrates gera-
de die Gelegenheit gegeben habe, die Lebenstauglichkeit seines Denkens unter
Beweis zu stellen: „sein häusliches Leben, neben einer Xanthippe, [war] sehr
unerfreulich; aber so /47/ wenig er sich durch die Leidenschaftlichkeiten der
Letztern in sei-/48/nem philosophischen Gleichmuth stören liess, ebensowenig
vermochte die Sorge für sein Hauswesen der Thätigkeit Abbruch zu thun, in
der er seine Lebensaufgabe erkannt hatte." (Zeller 1859, 46-48) Was die „Ko-
mödie" angeht, für die GM III 7 die verheirateten Philosophen empfiehlt, so
ist Zellers Bemerkung beachtenswert: „Merkwürdig ist, dass ARISTOPHANES
in den Wolken das eheliche Leben des Philosophen nicht berührt, welches
ihm /47/ doch zu den reichlichsten Scherzen Gelegenheit geboten haben müss-
te; wahrscheinlich war er aber damals noch nicht verheiratet" (ebd., 46 f.,
Fn. 3). Auf Basis des Anfangs von GM III 7 ließe sich argumentieren, dass,
ebenso wie Schopenhauer der „Feinde" (349, 22) bedurft hätte, um als Philo-
soph er selbst zu werden, doch manche Philosophen wie Sokrates gerade der
 
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