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Stellenkommentar GM III 9, KSA 5, S. 356-357 453

den Aufsatz, den Sammelband oder seinen Autor auch nirgends - und doch
dürfte er den Text in die Hand bekommen haben, beispielsweise in der Biblio-
thek in Chur, wo er sich während der Arbeit an GM im Mai und Juni 1887
mehrere Bände ausgeliehen hat (vgl. N. an Köselitz, 20. Mai 1887, KSB 8/
KGB III 5, Nr. 851, S. 79, Z. 49 f.). Dort sind Schmidts Charakteristiken von 1886
noch heute vorhanden (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur, Signatur KBG
Nb 142[1]). Die Art der Quellenkontamination lässt kaum einen Zweifel an der
Herkunft von N.s einschlägigem Wissen: „Der spätere Luther nennt die selbst-
herrliche Vernunft, deren Bande er selbst hatte lockern helfen: ,Bestia', ,Fraw
klüglin', ,Meister klügel', ,die kluge Hur, die natürliche Vernunfft'." (Schmidt
1882a, 89 = Schmidt 1886, 9) Vgl. NK 390, 2 f.; NK 394, 24 u. NK 394, 27 f. Für
die Annahme, N. habe nicht den Sammelband von 1886, sondern das Goethe-
Jahrbuch 1882 zur Hand gehabt, gibt es ein in NK 390, 30-32 vorgestelltes Indiz.
357, 14 „nitimur in vetitum"] Der lateinische Spruch kommt aus Ovid: Amores
III 4, 17 f.: „Nitimur in vetitum semper cupimusque negata / Sic interdictis in-
minet aeger aquis." („Wir streben immer nach dem Verbotenen und begehren
das, was uns versagt wird. / So lechzt der Kranke nach dem Wasser, das ihm
untersagt ist.") N. dürfte ihn in Galianis Brief an Madame d'Epinay vom
13. 04. 1776 gefunden haben: „On ne connait pas les hommes: Nitimur in veti-
tum. Plus une chose est difficile, penible, coüteuse, plus les hommes l'aiment,
s'y attachent, en raffolent." (Galiani 1882, 2, 222, vgl. Campioni 1995, 403 „Man
kennt die Menschen nicht: Nitimur in vetitum. Je schwieriger, anstrengender,
kostspieliger eine Sache ist, desto stärker lieben die Menschen sie und hängen
daran bis zum Wahnsinn." Von N. mit Randstrichen markiert.) Das Motiv, zum
Verbotenen Mut zu haben, kehrt bei N., gelegentlich auch in der lateinischen
Form, mehrmals wieder, vgl. NK KSA 6, 167, 15 f. u. NK KSA 5, 162, 30.
357, 17-34 selbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt
sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und
Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die
umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste
Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist
heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der
Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit;
Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweck-
und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der Ursächlich-
keit — wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem Elften sagen
„je combats l'universelle araignee" —; Hybris ist unsre Stellung zu uns, — denn
wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden,
und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf:
 
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