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454 Zur Genealogie der Moral

was liegt uns noch am „Heil" der Seele!] Eine Kurzfassung des Gedankens, wo-
nach aus Sicht der Griechen sowohl unser technisch-instrumentelles Verhältnis
zur Natur als auch unser experimentell-schamloses Verhältnis zu uns selbst
Ausdruck des Hochmuts seien - womit zwei der drei in 357, 17-34 auftretenden
Formen der Hybris genannt wären - findet sich in NL 1883, KSA 10, 8[15], 338,
23-25: „wir giengen ihnen gegen den Geschmack / unsre Menschenkenntniß
schamlos / unsre Technik vßpiq gegen die Natur". Eine sich gleich anschlie-
ßende Notiz - vgl. NK 404, 12-18 - macht deutlich, worauf sich diese Äuße-
rung bezieht, nämlich auf Leopold Schmidts Die Ethik der Griechen. Brusotti
1992b, 126, Fn. 63 und Orsucci 1996, 260 haben den Zusammenhang eingehend
untersucht. Angesichts der sehr viel ausführlicheren Behandlung des Themas
in GM III 9 dürfte N. dort nicht bloß auf die älteren Notate (vgl. neben NL 1883,
KSA 10, 8[15], 338 auch NL 1883/84, KSA 10, 24[1], 643), sondern direkt auf
Leopold Schmidt zurückgegriffen haben. Interessant ist, dass Schmidts Kapitel
„Der Mensch im Verhältniss zur Naturumgebung" den Unterschied zwischen
modernem und griechischem Naturverhältnis ausdrücklich mit dem Christen-
tum begründet - ein Aspekt, der in N.s Notaten noch durchaus präsent ist,
hingegen in GM III 9 ersatzlos entfällt. „Wenn der heutige Europäer Alpentun-
nels baut und die Dampfkraft sich dienstbar macht um den Ocean zu durch-
schneiden, so kann er den Einfluss der Bibel nicht verleugnen, denn weil diese
ihn gelehrt hat sich als den Herrn der Schöpfung zu betrachten, schaut er auf-
gerichteten Hauptes den Hindernissen entgegen, die sie seinem Thun bereitet.
[...] Bei den Griechen mischte sich in die Erkenntniss, dass die civilisatorische
Aufgabe des Menschen zum grossen Theile in einem unablässigen Ankämpfen
gegen die Natur besteht, fortwährend das Gefühl, dass mit der Verfolgung der-
selben die Gefahr einer Ueberschreitung der seinem Geschlecht gesetzten
Schranke, einer den Zorn der Götter herausfordernden Vermessenheit verbun-
den war, und darum blickten sie auf Alles, was in dieser Richtung erreicht
wurde, halb mit Bewunderung und halb mit Grauen." (Schmidt 1882b, 2, 80)
„Vielleicht ist die gemischte Empfindung, welche die allmählich errungene
Herrschaft über die Natur hervorruft, niemals schöner in Worte gekleidet wor-
den als es von Sophokles in den berühmten ersten Strophen des zweiten Chor-
gesanges der Antigone (332 fgg.) geschehen ist: Vieles Gewalt'ge lebt, doch
nichts / Ist gewaltiger als der Mensch." (Schmidt 1882b, 2, 81) Mit Ikaros und
Phaeton führt Schmidt Mythenfiguren an, die das Unbehagen der Griechen an-
gesichts überbordender, die Götter provozierender menschlicher Tatkraft ex-
emplarisch vorführen. „So erscheint das, was wir Durchbrechung der Naturge-
setze nennen, auf dem Boden des Mythos nicht als ein physisch Unmögliches,
wohl aber als ein von Seiten des Menschen moralisch Unzulässiges; auf dem
Boden der Geschichte verfällt der gleichen Verurtheilung der Versuch die geo-
 
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