462 Zur Genealogie der Moral
Schlagkraft der eigenen Argumentation mindert. Daher will das „Wir" dem as-
ketischen Priester zur Hand gehen - eine bemerkenswerte Perspektivenumkehr
(vgl. Dellinger 2017, 64 f.) - und das asketische Ideal so profilieren, dass ein
Kampf darum geführt werden kann - nämlich um „die Werthung unsres
Lebens seitens des asketischen Priesters" (362, 7 f.). Diese Bewertung des Le-
bens zehrt vom Gegensatz zu einem anderen, besseren, jenseitigen Leben, mit
dem verglichen das hiesige, irdische Leben elend und nichtswürdig erscheint,
„es sei denn, dass es sich etwa gegen sich selber wende, sich selbst ver-
neine" (362, 12 f.).
Als überraschend stellt GM III 11 den Sachverhalt dar, dass diese selbstwi-
dersprüchliche Lebensform nicht bloß eine periphere Randerscheinung der
Weltgeschichte ist, sondern der asketische Priester fast jederzeit und überall
aufgetreten ist. Wie kommt es, dass der priesterliche Asketismus nicht aus-
stirbt, obwohl seine Repräsentanten doch gerade auf Fortpflanzung, damit auf
die direkte biologische Reproduktion verzichten? Anscheinend sei dabei ein
„Interesse des Lebens selbst" (363, 6) wirksam (vgl. Ridley 2006, 83 f.
u. Morrisson 2014). Nach dieser Mutmaßung wird eingehend geschildert, wie
sehr es sich beim asketischen Leben um ein Leben handle, das, indem es über
das Leben überhaupt Herr werden, es aber nicht einfach wegwerfen wolle, mit
sich selbst im Zwiespalt sei und diesen Zwiespalt wolle, ja sogar genieße. Falls
freilich die Mutmaßung stimmt, dass das „Leben[.] selbst" - als um- und
übergreifender Begriff für jede Form organischen Seins? - ein Interesse am
Fortbestand asketischer Lebensformen hat, droht jede Polemik gegen das aske-
tische Ideal überflüssig zu werden. Die fragliche Mutmaßung, im asketischen
Ideal äußere sich ein „Interesse des Lebens selbst", wäre dann nur auf der
Metaebene der Reflexion und damit jenseits des Kampfes von lebensverneinen-
den und lebensbejahenden Mächten anzusiedeln, wo sich das „Wir" zunächst
noch positionieren zu wollen schien. Im Leiden findet der asketische Priester
überdies zu einem eigentümlichen Lebensgenuss - er verleugnet keineswegs
den Macht- oder Lebenswillen, obwohl er das doch zu tun behauptet.
Wenn man nach der im Blick auf Priester (und Frauen: 361, 32-362, 2) gege-
benen Diagnose das Eigene am schlechtesten zu verteidigen vermag, müsste
das wohl auch für das „Wir" gelten, das sein Eigenes, also die bejahende Wer-
tung des Lebens - und im Übrigen schon in GM III 10 die philosophische als
die programmatisch riskante Lebensform - zu verteidigen sich anschickt. Ent-
sprechend lässt GM III 11 offen, ob das „Wir" denn tatsächlich und aus eigenem
(Macht-)Interesse ein Gegner des asketischen Ideals ist, wenngleich es dies mit
einem „gesetzt" und einem Konjunktiv II als Möglichkeit in den Raum stellt
(361, 25 f.). Über das Leben an sich nachdenkend, scheint das „Wir" wiederum
auf einen Metastandpunkt zu aspirieren, von dem aus es die asketische und
Schlagkraft der eigenen Argumentation mindert. Daher will das „Wir" dem as-
ketischen Priester zur Hand gehen - eine bemerkenswerte Perspektivenumkehr
(vgl. Dellinger 2017, 64 f.) - und das asketische Ideal so profilieren, dass ein
Kampf darum geführt werden kann - nämlich um „die Werthung unsres
Lebens seitens des asketischen Priesters" (362, 7 f.). Diese Bewertung des Le-
bens zehrt vom Gegensatz zu einem anderen, besseren, jenseitigen Leben, mit
dem verglichen das hiesige, irdische Leben elend und nichtswürdig erscheint,
„es sei denn, dass es sich etwa gegen sich selber wende, sich selbst ver-
neine" (362, 12 f.).
Als überraschend stellt GM III 11 den Sachverhalt dar, dass diese selbstwi-
dersprüchliche Lebensform nicht bloß eine periphere Randerscheinung der
Weltgeschichte ist, sondern der asketische Priester fast jederzeit und überall
aufgetreten ist. Wie kommt es, dass der priesterliche Asketismus nicht aus-
stirbt, obwohl seine Repräsentanten doch gerade auf Fortpflanzung, damit auf
die direkte biologische Reproduktion verzichten? Anscheinend sei dabei ein
„Interesse des Lebens selbst" (363, 6) wirksam (vgl. Ridley 2006, 83 f.
u. Morrisson 2014). Nach dieser Mutmaßung wird eingehend geschildert, wie
sehr es sich beim asketischen Leben um ein Leben handle, das, indem es über
das Leben überhaupt Herr werden, es aber nicht einfach wegwerfen wolle, mit
sich selbst im Zwiespalt sei und diesen Zwiespalt wolle, ja sogar genieße. Falls
freilich die Mutmaßung stimmt, dass das „Leben[.] selbst" - als um- und
übergreifender Begriff für jede Form organischen Seins? - ein Interesse am
Fortbestand asketischer Lebensformen hat, droht jede Polemik gegen das aske-
tische Ideal überflüssig zu werden. Die fragliche Mutmaßung, im asketischen
Ideal äußere sich ein „Interesse des Lebens selbst", wäre dann nur auf der
Metaebene der Reflexion und damit jenseits des Kampfes von lebensverneinen-
den und lebensbejahenden Mächten anzusiedeln, wo sich das „Wir" zunächst
noch positionieren zu wollen schien. Im Leiden findet der asketische Priester
überdies zu einem eigentümlichen Lebensgenuss - er verleugnet keineswegs
den Macht- oder Lebenswillen, obwohl er das doch zu tun behauptet.
Wenn man nach der im Blick auf Priester (und Frauen: 361, 32-362, 2) gege-
benen Diagnose das Eigene am schlechtesten zu verteidigen vermag, müsste
das wohl auch für das „Wir" gelten, das sein Eigenes, also die bejahende Wer-
tung des Lebens - und im Übrigen schon in GM III 10 die philosophische als
die programmatisch riskante Lebensform - zu verteidigen sich anschickt. Ent-
sprechend lässt GM III 11 offen, ob das „Wir" denn tatsächlich und aus eigenem
(Macht-)Interesse ein Gegner des asketischen Ideals ist, wenngleich es dies mit
einem „gesetzt" und einem Konjunktiv II als Möglichkeit in den Raum stellt
(361, 25 f.). Über das Leben an sich nachdenkend, scheint das „Wir" wiederum
auf einen Metastandpunkt zu aspirieren, von dem aus es die asketische und