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468 Zur Genealogie der Moral

bekannt hätte (vgl. Dellinger 2015b): eine Vervielfältigung der Perspektiven,
um etwas angemessener und vollständiger zu begreifen: „je mehr Affekte wir
über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Au-
gen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird
unser ,Begriff dieser Sache, unsre ,Objektivität' sein" (365, 14-18). Der von den
asketisch motivierten Philosophen unternommene Versuch, den „Willen" und
die „Affekte" (365, 18) gänzlich auszuschalten, mutet hingegen - so suggeriert
die rhetorische Frage, mit der GM III 12 schließt - wie eine widernatürliche
Beschneidung, eine Kastration des Intellekts an.
GM III 12 liest sich wie eine Metareflexion auf die moralgenealogische Ar-
beit in der Dritten Abhandlung insgesamt. Ein exemplarisches Verfahren kriti-
scher Evaluation der asketischen Ideale könnte entsprechend darin bestehen,
möglichst viele Perspektiven und Affekte zur Sprache zu bringen. In einer sol-
chen Perspektiven- und Affektenvervielfältigung versucht sich diese Dritte Ab-
handlung, wobei eben nicht nur möglichst viele imaginierbare Sichtweisen an-
einander gereiht werden, sondern die Sprecherinstanz aus ihren starken Affek-
ten keinen Hehl macht: Das „Wir" will über die asketischen Ideale Herr werden
und mimt nicht den unparteiischen Beobachter. Einen derartigen unpartei-
ischen Beobachter kann es unter irdischen Bedingungen, ohne extraterrestri-
schen Blick (vgl. NK 362, 23-28) nicht geben.
GM III 12 ist, wie gesagt, als Schlüsseltext für N.s angeblichen Perspektivis-
mus Gegenstand vielfältiger Interpretationsbemühungen geworden. Leiter 1994,
343 deduziert aus dem Abschnitt erstens eine „Doctrine of Epistemic Affectivity",
wonach es keine interessen- oder affektenfreie Erkenntnis gebe, und zweitens
eine „Doctrine of Perspectives", wobei er darauf aufmerksam macht, dass N.s
Argument wesentlich von der Analogisierung von Sehen und Erkennen zehrt.
Falls Sehen und Erkennen nicht auf gleiche Weise funktionieren, so Leiter,
wäre N.s Argumentation akut bedroht. Und bleibe sie selbst dann, wenn man
die Analogie von Sehen und Erkennen als tragend akzeptiert, nicht doch ganz
der Kantischen Erkenntniskritik verhaftet (Leiter 1994, 351)? Janaway 2009, 51
macht hingegen darauf aufmerksam, wie sehr sich GM III 12 von dieser er-
kenntniskritischen Tradition durch die Betonung der Affekte unterscheidet, die
eben nicht mehr als Erkenntnishindernis, sondern als Erkenntnisermögli-
chungsgrund erscheinen. Trotzdem bleibe ein kontrollierendes, affektausglei-
chendes, bewusstes Erkenntnissubjekt, das Herr sein, Perspektiven ein- und
aushängen könne, nach wie vor mitgedacht (Janaway 2009, 56 f., unter Hin-
weis auf MA I Vorrede 6). Poellner 2009, 155 schaltet den in distanzierende
Anführungszeichen gesetzten Begriff der „Objektivität" in GM III 12 mit „objek-
tiver Wirklichkeit" gleich; er meint, N. (den er umstandslos mit dem sprechen-
den „Wir" gleichsetzt) „Claims explicitly that the concept of objective reality is
 
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