478 Zur Genealogie der Moral
Materie die Form wechseln indem am Leitfaden der Kausalität mechanische,
physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortre-
ten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren
will. Durch die ganze Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja sie besteht eben
wieder nur durch ihn: ... ist doch dieser Streit selbst nur die Offenbarung der
dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst', u. s. w. (Welt als Wille
und Vorstell. I, 174 fg.)" (Schopenhauer 1873-1874, 1/1, XVII) GM III 13 nimmt
nun vor dem Hintergrund von N.s eigener Rezeption darwinistischer Theorien
Schopenhauer unerbittlich beim Wort, indem jede Lebensregung als Teil des
Daseinskampfes erscheint - aber eben auch das, worin Schopenhauer den
Ausweg aus just diesem Kampf gesehen hat, nämlich die Verneinung des Le-
benswillens (vgl. NK 365, 24-26). Diese vermeintliche Verneinung erscheint
vielmehr als psychologische Selbsttäuschung; selbst in ihr wolle sich das Le-
ben - eben in reduzierter, geschwächter Form - doch bloß perpetuieren. Scho-
penhauer hat noch beweisen wollen, dass der Suizid im Gegensatz zur Askese
gerade keinen Ausweg aus der Willensbefangenheit biete, sondern sich dieser
Wille im Akt der Selbsttötung gerade freventlich bejahe (siehe Schopenhauer
1873-1874, 2, 471-476). GM III 13 agiert nun mit Schopenhauer gegen Schopen-
hauer, indem dieser Abschnitt plausibel zu machen sucht, dass selbst in der
Willensverneinung keine wirkliche Verneinung zu finden sei. Dazu wird probe-
halber der Kampf ums Dasein als ontologische Grundgegebenheit voraussetzt,
während in N.s Texten ansonsten gerne gegen diese Vorstellung polemisiert
wird, die sie durch den Kampf um Macht, Machtsteigerung ersetzen möchten
(vgl. NK KSA 6, 120, 19-24, ferner z. B. NL 1885, KSA 11, 34[208], 492, 12-14).
366, llf. das asketische Ideal ist Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens] In
GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14 wird der „Kampf um's Leben" nicht
geleugnet, aber „als Ausnahme" (KSA 6, 120, 19-21) betrachtet: Gegen die Dar-
winisten wird insinuiert, dass es ,normalerweise' im Leben nicht um bloße Er-
haltung gehe, sondern um Überbietung. Es hat den Anschein, als könne das
vom asketischen Ideal bestimmte Leben nun als diese „Ausnahme" durchge-
hen. Bei ihm wird nicht Steigerung, sondern Erhaltung erreicht - während es
sich täuschenden Illusionen über die Selbstverneinung und Selbstauslöschung
hingibt: „Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem
Anders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, des-
sen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wün-
schens ist die Fessel, die ihn hier anbindet" (366, 20-24).
366, 26 das Hiersein] In KSA 5, 366, 26 heißt es fälschlich: „das Hiersein". In
der Erstausgabe und im Druckmanuskript steht unmissverständlich: „das Hier-
sein" (Nietzsche 1887a, 129 und GSA 71/27,2, fol. 28r).
Materie die Form wechseln indem am Leitfaden der Kausalität mechanische,
physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortre-
ten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren
will. Durch die ganze Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja sie besteht eben
wieder nur durch ihn: ... ist doch dieser Streit selbst nur die Offenbarung der
dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst', u. s. w. (Welt als Wille
und Vorstell. I, 174 fg.)" (Schopenhauer 1873-1874, 1/1, XVII) GM III 13 nimmt
nun vor dem Hintergrund von N.s eigener Rezeption darwinistischer Theorien
Schopenhauer unerbittlich beim Wort, indem jede Lebensregung als Teil des
Daseinskampfes erscheint - aber eben auch das, worin Schopenhauer den
Ausweg aus just diesem Kampf gesehen hat, nämlich die Verneinung des Le-
benswillens (vgl. NK 365, 24-26). Diese vermeintliche Verneinung erscheint
vielmehr als psychologische Selbsttäuschung; selbst in ihr wolle sich das Le-
ben - eben in reduzierter, geschwächter Form - doch bloß perpetuieren. Scho-
penhauer hat noch beweisen wollen, dass der Suizid im Gegensatz zur Askese
gerade keinen Ausweg aus der Willensbefangenheit biete, sondern sich dieser
Wille im Akt der Selbsttötung gerade freventlich bejahe (siehe Schopenhauer
1873-1874, 2, 471-476). GM III 13 agiert nun mit Schopenhauer gegen Schopen-
hauer, indem dieser Abschnitt plausibel zu machen sucht, dass selbst in der
Willensverneinung keine wirkliche Verneinung zu finden sei. Dazu wird probe-
halber der Kampf ums Dasein als ontologische Grundgegebenheit voraussetzt,
während in N.s Texten ansonsten gerne gegen diese Vorstellung polemisiert
wird, die sie durch den Kampf um Macht, Machtsteigerung ersetzen möchten
(vgl. NK KSA 6, 120, 19-24, ferner z. B. NL 1885, KSA 11, 34[208], 492, 12-14).
366, llf. das asketische Ideal ist Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens] In
GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14 wird der „Kampf um's Leben" nicht
geleugnet, aber „als Ausnahme" (KSA 6, 120, 19-21) betrachtet: Gegen die Dar-
winisten wird insinuiert, dass es ,normalerweise' im Leben nicht um bloße Er-
haltung gehe, sondern um Überbietung. Es hat den Anschein, als könne das
vom asketischen Ideal bestimmte Leben nun als diese „Ausnahme" durchge-
hen. Bei ihm wird nicht Steigerung, sondern Erhaltung erreicht - während es
sich täuschenden Illusionen über die Selbstverneinung und Selbstauslöschung
hingibt: „Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem
Anders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, des-
sen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wün-
schens ist die Fessel, die ihn hier anbindet" (366, 20-24).
366, 26 das Hiersein] In KSA 5, 366, 26 heißt es fälschlich: „das Hiersein". In
der Erstausgabe und im Druckmanuskript steht unmissverständlich: „das Hier-
sein" (Nietzsche 1887a, 129 und GSA 71/27,2, fol. 28r).