Stellenkommentar GM III 14, KSA 5, S. 367 483
renklasse oder germanischen Stammeskriegern und ihrer Anfälligkeit für
christliche Armsünderlust? Von dem Abkömmling eines altindischen Fürsten-
geschlechtes, der unsanft mit den Abscheulichkeiten des Daseins konfrontiert,
als Asket in die Welt hinausging, bevor er unter dem Bodhi-Baum die Erleuch-
tung fand? Oder gehören die Gesunden gar nicht diesen politisch-ökonomisch-
militärischen Oberschichten an, sondern sind im Verborgenen lebende Philoso-
phen (der Zukunft)? Zöge die Behauptung vom Angekränkelt-Sein der Eliten
ihre Plausibilität aus einer empirischen oder historischen Realität, wäre damit
noch nicht viel über die Ursachen gesagt: Gesetzt, es wäre festzustellen, dass
sich wie auch immer beschaffene Eliten nicht so „gesund" verhielten und fühl-
ten, wie man es von ihnen erwarten dürfte, sie also einen Mangel an Selbstge-
wissheit, eine Neigung zur Selbstpeinigung aufwiesen, wäre damit noch kei-
neswegs bewiesen, dass sie von den „Kranken", den Zu-kurz-Gekommenen an-
gesteckt worden sind. Und da es sich ja nicht um eine Ansteckung im
physiologisch-epidemischen Sinne zu handeln scheint (oder doch?, vgl.
GM III 13, KSA 6, 365, 25 f.), gegen die auch der Gesündeste womöglich nicht
resistent ist: Warum sollte ein Gesunder versucht sein, sich die Daseinsdeu-
tung der Kranken zu eigen zu machen - sich sein eigenes Glück schlechtreden
zu lassen? Wenn er denn wirklich gesund ist. Sollte er es hingegen nicht sein,
löste sich die prinzipielle Unterscheidung von Kranken und Gesunden auf.
Vor dem Hintergrund von GM III 13 und der allgemeinen Kränklichkeits-
anthropologie ist die Erhebung von Gesundheit zur normativen Richtschnur
ohnehin schwierig - wo doch eben noch die Unausweichlichkeit der Krankheit
eingeräumt worden war - und offenbar gerade die Kühnsten das größte Krank-
heitsrisiko tragen. In GM III 14 geht die Argumentation von nüchterner Be-
schreibung über zur Polemik angesichts einer angeblichen „Verschwörung der
Leidenden gegen die Wohlgerathenen und Siegreichen" (369, 3 f., zu verschwö-
rungstheoretischen Versatzstücken und ihren Quellen in N.s Spätwerk siehe
Sommer 2000, 257 f. u. 654). Erst diese Verschwörungs-Suggestion im Verein
mit der Krankheits-Diagnose aktiviert die negativen Affekte der Leser gegen
die Vertreter des asketischen Ideals - wobei die Abwehrreaktionen der Leser,
die sich dem „Wir" beigesellen wollen, selber wiederum reaktiv statt aktiv zu
sein scheinen und als solche von zweifelhaftem Wert sind. Jedenfalls lassen
die affektiven Abwehrreaktionen, die sich gegen die „,verkehrte[.] Welt"' (371,
6) des Nihilismus regen, jenes „Pathos der Distanz" vermissen, das „in alle
Ewigkeit auch die Aufgaben aus einander halten" (371, 17 f.) solle: Jener doch
so gefürchtete „Ekel" scheint sich längst eingestellt zu haben.
Die Ausdrücke „krank" oder „Krankheit" werden nicht metaphorisch ver-
standen: Bei dem zur Debatte stehenden Phänomen handelt es sich tatsächlich
um eine Krankheit, zwar vornehmlich psycho-mentaler Art, doch auch tief und
renklasse oder germanischen Stammeskriegern und ihrer Anfälligkeit für
christliche Armsünderlust? Von dem Abkömmling eines altindischen Fürsten-
geschlechtes, der unsanft mit den Abscheulichkeiten des Daseins konfrontiert,
als Asket in die Welt hinausging, bevor er unter dem Bodhi-Baum die Erleuch-
tung fand? Oder gehören die Gesunden gar nicht diesen politisch-ökonomisch-
militärischen Oberschichten an, sondern sind im Verborgenen lebende Philoso-
phen (der Zukunft)? Zöge die Behauptung vom Angekränkelt-Sein der Eliten
ihre Plausibilität aus einer empirischen oder historischen Realität, wäre damit
noch nicht viel über die Ursachen gesagt: Gesetzt, es wäre festzustellen, dass
sich wie auch immer beschaffene Eliten nicht so „gesund" verhielten und fühl-
ten, wie man es von ihnen erwarten dürfte, sie also einen Mangel an Selbstge-
wissheit, eine Neigung zur Selbstpeinigung aufwiesen, wäre damit noch kei-
neswegs bewiesen, dass sie von den „Kranken", den Zu-kurz-Gekommenen an-
gesteckt worden sind. Und da es sich ja nicht um eine Ansteckung im
physiologisch-epidemischen Sinne zu handeln scheint (oder doch?, vgl.
GM III 13, KSA 6, 365, 25 f.), gegen die auch der Gesündeste womöglich nicht
resistent ist: Warum sollte ein Gesunder versucht sein, sich die Daseinsdeu-
tung der Kranken zu eigen zu machen - sich sein eigenes Glück schlechtreden
zu lassen? Wenn er denn wirklich gesund ist. Sollte er es hingegen nicht sein,
löste sich die prinzipielle Unterscheidung von Kranken und Gesunden auf.
Vor dem Hintergrund von GM III 13 und der allgemeinen Kränklichkeits-
anthropologie ist die Erhebung von Gesundheit zur normativen Richtschnur
ohnehin schwierig - wo doch eben noch die Unausweichlichkeit der Krankheit
eingeräumt worden war - und offenbar gerade die Kühnsten das größte Krank-
heitsrisiko tragen. In GM III 14 geht die Argumentation von nüchterner Be-
schreibung über zur Polemik angesichts einer angeblichen „Verschwörung der
Leidenden gegen die Wohlgerathenen und Siegreichen" (369, 3 f., zu verschwö-
rungstheoretischen Versatzstücken und ihren Quellen in N.s Spätwerk siehe
Sommer 2000, 257 f. u. 654). Erst diese Verschwörungs-Suggestion im Verein
mit der Krankheits-Diagnose aktiviert die negativen Affekte der Leser gegen
die Vertreter des asketischen Ideals - wobei die Abwehrreaktionen der Leser,
die sich dem „Wir" beigesellen wollen, selber wiederum reaktiv statt aktiv zu
sein scheinen und als solche von zweifelhaftem Wert sind. Jedenfalls lassen
die affektiven Abwehrreaktionen, die sich gegen die „,verkehrte[.] Welt"' (371,
6) des Nihilismus regen, jenes „Pathos der Distanz" vermissen, das „in alle
Ewigkeit auch die Aufgaben aus einander halten" (371, 17 f.) solle: Jener doch
so gefürchtete „Ekel" scheint sich längst eingestellt zu haben.
Die Ausdrücke „krank" oder „Krankheit" werden nicht metaphorisch ver-
standen: Bei dem zur Debatte stehenden Phänomen handelt es sich tatsächlich
um eine Krankheit, zwar vornehmlich psycho-mentaler Art, doch auch tief und