492 Zur Genealogie der Moral
ronnen ist, während in Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst „verkehrte Welt"
als Beispiel für „Paradoxa und Oxymora" herhält (Gerber 1874, 2/2, 286).
Und dass für Schopenhauer fast alles, was nicht in seine Vorstellung von der
Welt passte, „verkehrte Welt" sein musste, versteht sich fast von selbst, so z. B.
das Denken Hegels, also die „in unsern Tagen berühmt gewordene[.] philoso-
phische[.] Charlatanerie, welche, statt die Begriffe für aus den Dingen abstra-
hirte Gedanken zu erkennen, umgekehrt die Begriffe zum Ersten macht und in
den Dingen nur konkrete Begriffe sieht, auf diese Weise die verkehrte Welt, als
eine philosophische Hanswurstiade, die natürlich großen Beifall finden mußte,
zu Markte bringend" (Schopenhauer 1873-1874, 2, 603). Die „verkehrte Welt"
wie in 371, 6 pathetisch hinweg zu wünschen, ist selbst also nur ein zitierter
Gestus.
371, 15-18 das Höhere soll sich nicht zum Werlczeug des Niedrigeren herabwür-
digen, das Pathos der Distanz soll in alle Ewigkeit auch die Aufgaben aus einan-
der halten!] Vgl. NK 259, 20-23. Die Entstehungsgeschichte dieses Distanzpa-
thos aus Macht- und Herrschaftskonstellationen reflektieren die Notate N VII 2,
165, 16-24 (KGW IX 3, vgl. NL 1885/86, KSA 12, 1[7], 12) und N VII 2, 166, 18-
34 (KGW IX 3, vgl. NL 1885/86, KSA 12, l[10], 13).
371, 31-372, 2 Damit wir uns selbst nämlich, meine Freunde, wenigstens eine
Weile noch gegen die zwei schlimmsten Seuchen vertheidigen, die gerade für uns
aufgespart sein mögen, — gegen den grossen Ekel am Menschen! gegen
das grosse Mitleid mit dem Menschen!...] Die 371, 31-372, 2 zugrundelie-
gende These besagt offenbar, dass das Zusammenkommen beider „Seuchen"
eine Pandemie auslöst. Es ist klar, dass der Ekel erst zum Problem wird, wenn
er sich vom partikularen Objekt abwendet (das Monster, der Aussätzige, vor
dem man sich ekelt) und alles affiziert, bis der Sich-Ekelnde selbst zum Gegen-
stand seines Ekels wird, und sich der Ekel auf die Welt im Ganzen erstreckt.
Ebenso klar ist, dass das Mitleiden bei N. ein Problem ist, weil es den Mitlei-
denden in Mitleidenschaft ziehe und damit schwäche. Aber ist die Prophetie
von GM III 14 überzeugend, dass eine Zukunftsgefahr gerade im Zusammenflie-
ßen von Ekel und Mitleid liegt, die sich quasi gegenseitig potenzieren? Ist die-
ser Fall je eingetreten? Ist er psychologisch überhaupt plausibel? Denn das,
wovor sich jemand ekelt, provoziert im Normalfall gerade kein Mitleid - man
wendet sich mit Grausen ab. Setzt Mitleid nicht Identifikation voraus, die not-
wendig etwas jenseits des Ekels anzeigt? Kurzum: Wie gehen Mitleiden und
Ekel begrifflich und sachlich überhaupt zusammen?
Zur Theoriegeschichte des Ekels vgl. Menninghaus 1999, bes. das N.-Kapi-
tel (ebd., 225-274); über GM formuliert Menninghaus mit Blick auf die hier zu
kommentierende Stelle die Globalthese: „Zur Genealogie der Moral progrediert
in einer sich selbst verstärkenden Ekel-Schleife." (Ebd., 241).
ronnen ist, während in Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst „verkehrte Welt"
als Beispiel für „Paradoxa und Oxymora" herhält (Gerber 1874, 2/2, 286).
Und dass für Schopenhauer fast alles, was nicht in seine Vorstellung von der
Welt passte, „verkehrte Welt" sein musste, versteht sich fast von selbst, so z. B.
das Denken Hegels, also die „in unsern Tagen berühmt gewordene[.] philoso-
phische[.] Charlatanerie, welche, statt die Begriffe für aus den Dingen abstra-
hirte Gedanken zu erkennen, umgekehrt die Begriffe zum Ersten macht und in
den Dingen nur konkrete Begriffe sieht, auf diese Weise die verkehrte Welt, als
eine philosophische Hanswurstiade, die natürlich großen Beifall finden mußte,
zu Markte bringend" (Schopenhauer 1873-1874, 2, 603). Die „verkehrte Welt"
wie in 371, 6 pathetisch hinweg zu wünschen, ist selbst also nur ein zitierter
Gestus.
371, 15-18 das Höhere soll sich nicht zum Werlczeug des Niedrigeren herabwür-
digen, das Pathos der Distanz soll in alle Ewigkeit auch die Aufgaben aus einan-
der halten!] Vgl. NK 259, 20-23. Die Entstehungsgeschichte dieses Distanzpa-
thos aus Macht- und Herrschaftskonstellationen reflektieren die Notate N VII 2,
165, 16-24 (KGW IX 3, vgl. NL 1885/86, KSA 12, 1[7], 12) und N VII 2, 166, 18-
34 (KGW IX 3, vgl. NL 1885/86, KSA 12, l[10], 13).
371, 31-372, 2 Damit wir uns selbst nämlich, meine Freunde, wenigstens eine
Weile noch gegen die zwei schlimmsten Seuchen vertheidigen, die gerade für uns
aufgespart sein mögen, — gegen den grossen Ekel am Menschen! gegen
das grosse Mitleid mit dem Menschen!...] Die 371, 31-372, 2 zugrundelie-
gende These besagt offenbar, dass das Zusammenkommen beider „Seuchen"
eine Pandemie auslöst. Es ist klar, dass der Ekel erst zum Problem wird, wenn
er sich vom partikularen Objekt abwendet (das Monster, der Aussätzige, vor
dem man sich ekelt) und alles affiziert, bis der Sich-Ekelnde selbst zum Gegen-
stand seines Ekels wird, und sich der Ekel auf die Welt im Ganzen erstreckt.
Ebenso klar ist, dass das Mitleiden bei N. ein Problem ist, weil es den Mitlei-
denden in Mitleidenschaft ziehe und damit schwäche. Aber ist die Prophetie
von GM III 14 überzeugend, dass eine Zukunftsgefahr gerade im Zusammenflie-
ßen von Ekel und Mitleid liegt, die sich quasi gegenseitig potenzieren? Ist die-
ser Fall je eingetreten? Ist er psychologisch überhaupt plausibel? Denn das,
wovor sich jemand ekelt, provoziert im Normalfall gerade kein Mitleid - man
wendet sich mit Grausen ab. Setzt Mitleid nicht Identifikation voraus, die not-
wendig etwas jenseits des Ekels anzeigt? Kurzum: Wie gehen Mitleiden und
Ekel begrifflich und sachlich überhaupt zusammen?
Zur Theoriegeschichte des Ekels vgl. Menninghaus 1999, bes. das N.-Kapi-
tel (ebd., 225-274); über GM formuliert Menninghaus mit Blick auf die hier zu
kommentierende Stelle die Globalthese: „Zur Genealogie der Moral progrediert
in einer sich selbst verstärkenden Ekel-Schleife." (Ebd., 241).