494 Zur Genealogie der Moral
sie sich selbst, als vermeintlich Schuldige, in anderer Weise leiden machen,
sei es durch verbale und intellektuelle Selbstanklage - Armsünderzerknir-
schung -, sei es durch körperliche Selbstzüchtigung.
GM III 15 gibt sich zwar den Anschein nüchterner kulturhistorischer Analy-
se und suggeriert ein eigenes therapeutisches Interesse, die Menschen über die
wahren Ursachen ihres Unwohlseins aufzuklären. Aber dieser Abschnitt scheut
(wie durchgehend die einschlägigen Ausführungen in der Dritten Abhandlung)
keineswegs den lauten moralisierenden Ton, der wiederum die asketischen
Priester zu weltgeschichtlich Schuldigen erklärt, ebenso wie diese die Leiden-
den für schuldig an ihrem eigenen Leiden erklärt haben sollen. GM III 15 bietet
demnach, obwohl dieser Abschnitt auch über die physiologische Befindlichkeit
der Priester - ihr Kranksein im Verein mit ihrem Willen zur Macht - spricht,
selbst eine Lesart der Weltgeschichte in Kategorien von Schuld und Sühne un-
ter dem Deckmantel von Krankheit und Gesundheit. Es findet keine Exstirpati-
on der moralischen Perspektive zugunsten moralfreier Diagnose statt, sondern
nur eine Vorzeichenveränderung in der Moralität der Perspektive. GM III 15
sucht die moralische Empörung der Leser gegen das unmoralische Tun der
Priester zu schüren. Insofern verwandelt sich auch GM der priesterlichen Den-
kungsart an - wenngleich in der Absicht ihrer Depotenzierung.
Genauer besehen ist nicht wirklich klar, inwiefern die Priester krank sind,
was GM III 15 ja behauptet. Wie kann jemand krank sein, dessen Wille zur
Macht nicht angetastet wird und der imstande ist, ihn gegenüber Dritten, näm-
lich seiner Herde und den von ihm bekämpften Starken auszuleben, also im
Unterschied zu den von ihm domestizierten Leidenden gerade nicht gezwun-
gen ist, diesen Machtwillen und seine Affekte gegen sich selber zu richten?
Zudem sind die Priester nach Ausweis von GM III 15 so gesund, dass ihnen die
Krankheit ihrer Herde nichts anhaben kann und sie sich ihrer zu bedienen
verstehen - ganz im Unterschied zu den als „Gesunde" Titulierten, die nach
GM III 14 ja hochgradig ansteckungsgefährdet erscheinen.
Obwohl die asketischen Priester mit dem Verdikt „Krankheit" belegt wer-
den, ist es um ihre Widerstandsfähigkeit offensichtlich viel besser bestellt als
um die der angeblich so Gesunden und Starken. Der Vorwurf an die Adresse
der Priester müsste wohl lauten, sie machten diese Gesunden krank, indem sie
ihnen ebenso erfolgreich wie den Kranken einreden, dass die Schuld am Lei-
den - vor dem auch Gesunde nicht gefeit sind - ganz bei ihnen selbst, in ihrer
Sündhaftigkeit liege. Gesunde sind offenbar nicht immer ganz gesund und
wenden sich dann fatalerweise an die Priester, die sie dauerhaft krank machen.
Aber warum sollten die Gesunden glauben, was ihnen die Priester einflüstern?
Eigentlich müsste nach der Apartheidslogik von GM III 14 die Ressenti-
ment- und Affektumlenkung der Priester den Gesunden vorzüglich ins Konzept
sie sich selbst, als vermeintlich Schuldige, in anderer Weise leiden machen,
sei es durch verbale und intellektuelle Selbstanklage - Armsünderzerknir-
schung -, sei es durch körperliche Selbstzüchtigung.
GM III 15 gibt sich zwar den Anschein nüchterner kulturhistorischer Analy-
se und suggeriert ein eigenes therapeutisches Interesse, die Menschen über die
wahren Ursachen ihres Unwohlseins aufzuklären. Aber dieser Abschnitt scheut
(wie durchgehend die einschlägigen Ausführungen in der Dritten Abhandlung)
keineswegs den lauten moralisierenden Ton, der wiederum die asketischen
Priester zu weltgeschichtlich Schuldigen erklärt, ebenso wie diese die Leiden-
den für schuldig an ihrem eigenen Leiden erklärt haben sollen. GM III 15 bietet
demnach, obwohl dieser Abschnitt auch über die physiologische Befindlichkeit
der Priester - ihr Kranksein im Verein mit ihrem Willen zur Macht - spricht,
selbst eine Lesart der Weltgeschichte in Kategorien von Schuld und Sühne un-
ter dem Deckmantel von Krankheit und Gesundheit. Es findet keine Exstirpati-
on der moralischen Perspektive zugunsten moralfreier Diagnose statt, sondern
nur eine Vorzeichenveränderung in der Moralität der Perspektive. GM III 15
sucht die moralische Empörung der Leser gegen das unmoralische Tun der
Priester zu schüren. Insofern verwandelt sich auch GM der priesterlichen Den-
kungsart an - wenngleich in der Absicht ihrer Depotenzierung.
Genauer besehen ist nicht wirklich klar, inwiefern die Priester krank sind,
was GM III 15 ja behauptet. Wie kann jemand krank sein, dessen Wille zur
Macht nicht angetastet wird und der imstande ist, ihn gegenüber Dritten, näm-
lich seiner Herde und den von ihm bekämpften Starken auszuleben, also im
Unterschied zu den von ihm domestizierten Leidenden gerade nicht gezwun-
gen ist, diesen Machtwillen und seine Affekte gegen sich selber zu richten?
Zudem sind die Priester nach Ausweis von GM III 15 so gesund, dass ihnen die
Krankheit ihrer Herde nichts anhaben kann und sie sich ihrer zu bedienen
verstehen - ganz im Unterschied zu den als „Gesunde" Titulierten, die nach
GM III 14 ja hochgradig ansteckungsgefährdet erscheinen.
Obwohl die asketischen Priester mit dem Verdikt „Krankheit" belegt wer-
den, ist es um ihre Widerstandsfähigkeit offensichtlich viel besser bestellt als
um die der angeblich so Gesunden und Starken. Der Vorwurf an die Adresse
der Priester müsste wohl lauten, sie machten diese Gesunden krank, indem sie
ihnen ebenso erfolgreich wie den Kranken einreden, dass die Schuld am Lei-
den - vor dem auch Gesunde nicht gefeit sind - ganz bei ihnen selbst, in ihrer
Sündhaftigkeit liege. Gesunde sind offenbar nicht immer ganz gesund und
wenden sich dann fatalerweise an die Priester, die sie dauerhaft krank machen.
Aber warum sollten die Gesunden glauben, was ihnen die Priester einflüstern?
Eigentlich müsste nach der Apartheidslogik von GM III 14 die Ressenti-
ment- und Affektumlenkung der Priester den Gesunden vorzüglich ins Konzept