540 Zur Genealogie der Moral
oft darauf angelegt, bei ihren Lesern Ausschweifungen des Gefühls zu wecken?
Oder soll man als Interpret eine Grenze einziehen zwischen Affekten, die aus
dem Leben heraus das Leben verneinen, also selbstwidersprüchlich sind, und
solchen, die das Leben bejahen? Aber auf welche Weise sollte ein Kranker sein
Leben anders bejahen können?
387, 27-30 Wovor warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete?
„Misstrauen wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten Regungen! sagte er, sie
sind fast immer gut"...] Gemeint ist Charles-Maurice de Talleyrand-Peri-
gord; in W II 2, 84, 2-10 (KGW IX 6) hat N. den originalen Wortlaut zitiert:
„,mefiez-vous du premier mouvement; il est toujours / genereux.' / Talleyrand
zu / den jungen Gesandtschafts=Se=/kretären." (Vgl. NL 1887, KSA 12, 10[78],
500, 22 f.) In N.s Übersetzung für GM III 20 ist das „fast" seine Zutat. N. hat
den Ausspruch, wie Patrick Wotling in Nietzsche 2000, 240 und Campioni
2008, 281 nachgewiesen haben, vermutlich in Stendhals Memoires d'un touriste
gefunden, die er gelesen und besessen hat: „D'abord, il faut me deprier ä diner
chez l'homme obligeant qui m'a prete son cheval avant-hier; un moment je suis
tente de lui dire tout bonnement la verite. Mais, par bonheur je me souviens
du mot de M. de Talleyrand aux jeunes secretaires d'ambassade: Mefiez-vous
du premier mouvement, il est toujours genereux." (Stendhal 1877b, 2, 295. „Zu-
erst muss ich mir verbieten, bei dem verbindlichen Herrn zu essen, der mir
vorgestern sein Pferd geliehen hat; für einen Moment bin ich versucht, ihm
einfach die Wahrheit zu sagen. Aber glücklicherweise erinnere ich mich an die
Worte von M. de Talleyrand, die er an die jungen Botschaftssekretäre richtete:
Hütet euch vor der ersten Regung, sie ist immer großmütig.")
388, 2-6 Das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Ge-
fühls-Ausschweifung: — wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird
den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im We-
sentlichen schon vorwegnehmen.] Die formelhafte Wendung in „neun Worte[n]"
provoziert allerdings Rückfragen: Warum steht „das asketische Ideal" jetzt „im
Dienste einer Absicht", nämlich eine Ausschweifung des Gefühls zu erzeugen?
Sollte nicht gerade umgekehrt dieses Ideal der Zweck statt das Mittel sein, also
die zu erzeugende Gefühlsausschweifung zur Durchsetzung und habituellen
Verstetigung des asketischen Ideals eingesetzt werden? Der Rückverweis auf
die Zweite Abhandlung wird von 389, 6 f. an verständlicher - Schuld, schlech-
tes Gewissen, Sünde sind die Begriffsmittel, mit denen die asketischen Priester
Affektumlenkung zustande bringen sollen. Was in 388, 6-10 hingegen unmit-
telbar folgt, nämlich die priesterliche Taktik, vom Schmerz durch einen plötzli-
chen Affekt abzulenken, ist Thema in GM III 15, vgl. z. B. NK 374, 3-6.
388, 14-16 und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die ganze
Meute wilder Hunde im Menschen in seinen Dienst genommen] Vgl. Za I Von den
oft darauf angelegt, bei ihren Lesern Ausschweifungen des Gefühls zu wecken?
Oder soll man als Interpret eine Grenze einziehen zwischen Affekten, die aus
dem Leben heraus das Leben verneinen, also selbstwidersprüchlich sind, und
solchen, die das Leben bejahen? Aber auf welche Weise sollte ein Kranker sein
Leben anders bejahen können?
387, 27-30 Wovor warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete?
„Misstrauen wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten Regungen! sagte er, sie
sind fast immer gut"...] Gemeint ist Charles-Maurice de Talleyrand-Peri-
gord; in W II 2, 84, 2-10 (KGW IX 6) hat N. den originalen Wortlaut zitiert:
„,mefiez-vous du premier mouvement; il est toujours / genereux.' / Talleyrand
zu / den jungen Gesandtschafts=Se=/kretären." (Vgl. NL 1887, KSA 12, 10[78],
500, 22 f.) In N.s Übersetzung für GM III 20 ist das „fast" seine Zutat. N. hat
den Ausspruch, wie Patrick Wotling in Nietzsche 2000, 240 und Campioni
2008, 281 nachgewiesen haben, vermutlich in Stendhals Memoires d'un touriste
gefunden, die er gelesen und besessen hat: „D'abord, il faut me deprier ä diner
chez l'homme obligeant qui m'a prete son cheval avant-hier; un moment je suis
tente de lui dire tout bonnement la verite. Mais, par bonheur je me souviens
du mot de M. de Talleyrand aux jeunes secretaires d'ambassade: Mefiez-vous
du premier mouvement, il est toujours genereux." (Stendhal 1877b, 2, 295. „Zu-
erst muss ich mir verbieten, bei dem verbindlichen Herrn zu essen, der mir
vorgestern sein Pferd geliehen hat; für einen Moment bin ich versucht, ihm
einfach die Wahrheit zu sagen. Aber glücklicherweise erinnere ich mich an die
Worte von M. de Talleyrand, die er an die jungen Botschaftssekretäre richtete:
Hütet euch vor der ersten Regung, sie ist immer großmütig.")
388, 2-6 Das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Ge-
fühls-Ausschweifung: — wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird
den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im We-
sentlichen schon vorwegnehmen.] Die formelhafte Wendung in „neun Worte[n]"
provoziert allerdings Rückfragen: Warum steht „das asketische Ideal" jetzt „im
Dienste einer Absicht", nämlich eine Ausschweifung des Gefühls zu erzeugen?
Sollte nicht gerade umgekehrt dieses Ideal der Zweck statt das Mittel sein, also
die zu erzeugende Gefühlsausschweifung zur Durchsetzung und habituellen
Verstetigung des asketischen Ideals eingesetzt werden? Der Rückverweis auf
die Zweite Abhandlung wird von 389, 6 f. an verständlicher - Schuld, schlech-
tes Gewissen, Sünde sind die Begriffsmittel, mit denen die asketischen Priester
Affektumlenkung zustande bringen sollen. Was in 388, 6-10 hingegen unmit-
telbar folgt, nämlich die priesterliche Taktik, vom Schmerz durch einen plötzli-
chen Affekt abzulenken, ist Thema in GM III 15, vgl. z. B. NK 374, 3-6.
388, 14-16 und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die ganze
Meute wilder Hunde im Menschen in seinen Dienst genommen] Vgl. Za I Von den