542 Zur Genealogie der Moral
389, 8 f. Thierpsychologie] Den Ausdruck „Thierpsychologie" benutzt N. nur
hier; er ist aber in der von ihm gelesenen anthropologischen und biologischen
Fachliteratur bereits etabliert. So handelt Otto Caspari in seiner Urgeschichte
der Menschheit eingehend von den „Schwierigkeiten und Mängel[n] einer ge-
nauen Thierpsychologie" (Caspari 1877, 1, 73), und Georg Heinrich Schneider
stellt in seinem Buch Der thierische Wille fest, dass „[v]on den Fachpsycholo-
gen [...] bisher die Beobachtung der Thiere fast ganz vernachlässigt worden"
sei (Schneider [1880], 8), und meint im Blick auf Espinas 1879, dieses Werk sei
„charakteristisch" „für den gegenwärtigen Stand der Thierpsychologie, die
sich noch ganz in den Anfängen befindet": „Die größte Schwäche der bisheri-
gen Thierpsychologie besteht in der äußerst mangelhaften kritiklosen Beurt-
heilung der Thiergewohnheiten" (Schneider [1880], 15. In N.s Exemplar mit
Eselsohr markiert.) Risse 2005b, 143 argumentiert, N. wolle GM insgesamt „als
eine Übung in ,Thierpsychologie' verstanden wissen und lege damit „für den
außerordentlichen kulturellen Einfluss der biologischen Wissenschaften, ins-
besondere der Physiologie und Evolutionsbiologie, in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts Zeugnis ab".
389, 12-17 Die „Sünde" — denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thieri-
schen „schlechten Gewissens" (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) — ist
bisher das grösste Ereigniss in der Geschichte der kranken Seele gewesen: in
ihr haben wir das gefährlichste und verhängnissvollste Kunststück der religiösen
Interpretation.] Die Formulierung von der „rückwärts gewendeten Grausam-
keit" wird N. aufnehmen, wenn er in EH GM, KSA 6, 352, 20-24 den Inhalt der
Zweiten Abhandlung von GM wiedergibt.
389, 18 irgendwie, jedenfalls physiologisch] Bettina Wahrig-Schmidt benutzt
diese Phrase als Titel ihres Aufsatzes zu N.s Rezeption der Werke von Alexand-
re Herzen (fils) und Charles Fere, untersucht dort aber ausschließlich N.-Texte
von 1888 und nicht Quellen zu GM (Wahrig-Schmidt 1988).
389, 28-30 jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er
kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus] Das Experiment, auf
das N. hier anspielt, kommt bei ihm erstmals 1882 zur Sprache. Schon da stellt
er den Bezug zur Hypnose her, die in GM III 20 mit dem „hypnotische[n] Blick
des Sünders" auf seine „,Schuld'" (389, 33-390, 1) ebenfalls thematisiert wird:
„Verbrecher werden von den moralischen Menschen als Zubehör Einer einzigen
That behandelt — und sie selber behandeln sich so, je mehr diese Eine That
die Ausnahme ihres Wesens war: sie wirkt wie der Kreidestrich um die Hen-
ne. — Es giebt in der moralischen Welt sehr viel Hypnotismus." (NL 1882,
KSA 10, 3[1]96, 64, 20-24) Eine erste Metamorphose durchläuft diese Überle-
gung in Za I Vom bleichen Verbrecher, wo dieser Verbrecher in ähnlich hypno-
389, 8 f. Thierpsychologie] Den Ausdruck „Thierpsychologie" benutzt N. nur
hier; er ist aber in der von ihm gelesenen anthropologischen und biologischen
Fachliteratur bereits etabliert. So handelt Otto Caspari in seiner Urgeschichte
der Menschheit eingehend von den „Schwierigkeiten und Mängel[n] einer ge-
nauen Thierpsychologie" (Caspari 1877, 1, 73), und Georg Heinrich Schneider
stellt in seinem Buch Der thierische Wille fest, dass „[v]on den Fachpsycholo-
gen [...] bisher die Beobachtung der Thiere fast ganz vernachlässigt worden"
sei (Schneider [1880], 8), und meint im Blick auf Espinas 1879, dieses Werk sei
„charakteristisch" „für den gegenwärtigen Stand der Thierpsychologie, die
sich noch ganz in den Anfängen befindet": „Die größte Schwäche der bisheri-
gen Thierpsychologie besteht in der äußerst mangelhaften kritiklosen Beurt-
heilung der Thiergewohnheiten" (Schneider [1880], 15. In N.s Exemplar mit
Eselsohr markiert.) Risse 2005b, 143 argumentiert, N. wolle GM insgesamt „als
eine Übung in ,Thierpsychologie' verstanden wissen und lege damit „für den
außerordentlichen kulturellen Einfluss der biologischen Wissenschaften, ins-
besondere der Physiologie und Evolutionsbiologie, in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts Zeugnis ab".
389, 12-17 Die „Sünde" — denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thieri-
schen „schlechten Gewissens" (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) — ist
bisher das grösste Ereigniss in der Geschichte der kranken Seele gewesen: in
ihr haben wir das gefährlichste und verhängnissvollste Kunststück der religiösen
Interpretation.] Die Formulierung von der „rückwärts gewendeten Grausam-
keit" wird N. aufnehmen, wenn er in EH GM, KSA 6, 352, 20-24 den Inhalt der
Zweiten Abhandlung von GM wiedergibt.
389, 18 irgendwie, jedenfalls physiologisch] Bettina Wahrig-Schmidt benutzt
diese Phrase als Titel ihres Aufsatzes zu N.s Rezeption der Werke von Alexand-
re Herzen (fils) und Charles Fere, untersucht dort aber ausschließlich N.-Texte
von 1888 und nicht Quellen zu GM (Wahrig-Schmidt 1988).
389, 28-30 jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er
kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus] Das Experiment, auf
das N. hier anspielt, kommt bei ihm erstmals 1882 zur Sprache. Schon da stellt
er den Bezug zur Hypnose her, die in GM III 20 mit dem „hypnotische[n] Blick
des Sünders" auf seine „,Schuld'" (389, 33-390, 1) ebenfalls thematisiert wird:
„Verbrecher werden von den moralischen Menschen als Zubehör Einer einzigen
That behandelt — und sie selber behandeln sich so, je mehr diese Eine That
die Ausnahme ihres Wesens war: sie wirkt wie der Kreidestrich um die Hen-
ne. — Es giebt in der moralischen Welt sehr viel Hypnotismus." (NL 1882,
KSA 10, 3[1]96, 64, 20-24) Eine erste Metamorphose durchläuft diese Überle-
gung in Za I Vom bleichen Verbrecher, wo dieser Verbrecher in ähnlich hypno-