566 Zur Genealogie der Moral
Schwindsüchtiger" (Petri 1861, 366). Julius Bahnsen spricht im zweiten, unter
N.s Büchern erhaltenen Band seines Werks Der Widerspruch im Wissen und
Wesen der Welt von der „bekannten Erregtheit der Hektiker" (Bahnsen 1882, 2,
111).
399, 2 f. diese „freien, sehr freien Geister"] Das ist ein doppeltes Selbstzitat,
nämlich zum einen aus der Vorrede von JGB, wo sich das „Wir" so bezeichnet
und überdies als „gute Europäer" tituliert (KSA 5, 13, 13, der Passus fehlte
zunächst im Druckmanuskript, vgl. NK KSA 5, 13, 11-16), zum anderen aus
JGB 44, wo die „Philosophen der Zukunft" so bezeichnet werden (KSA 5, 60,
22 f.), um sie zugleich von den „fälschlich [so] genannten ,freien Geister[n]"'
(KSA 5, 61, 7) zu unterscheiden. Die Fügung dient dort also jeweils der positi-
ven Charakterisierung, während sich das „Wir" in GM III 24 mit den „freien,
sehr freien Geistern" gerade nicht gemein machen will, weil sie noch an die
Wahrheit glauben: Es sind eben, entgegen ihrer Selbstbeschreibung, keine
wirklich freigewordenen Geister vgl. NK 399, 10-12. Die Anführungszeichen in
399, 2 f. zeigen das Zitat an und dienen zugleich der ironischen Distanzierung.
399, 10-12 Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben
noch an die Wahrheit...] Ein solcher Glaube an „die Wahrheit" als eine
metaphysische Wesenheit, wie er schon in FW Vorrede 4 nachdrücklich ver-
worfen wird (vgl. Kaufmann 2016, 83-98), mag unter den „Verneinenden und
Abseitigen von Heute", den „Unbedingten in Einem" (398, 25 f.) vorkommen.
Freilich unterbleibt in GM III 24 der Nachweis, dass Wissenschaft als spezifi-
sche Kulturpraxis auf einen solchen Glauben angewiesen ist. Man könnte argu-
mentieren, Wissenschaft wolle zwar Erkenntnis und orientiere sich an der Leit-
unterscheidung wahr/falsch, sei aber doch mit kleinen Wahrheiten beschäf-
tigt, mit Einzelerkenntnissen, „,petits faits"' (399, 34). Dann wäre sie ein
dynamisches System von ständig variierten Sätzen, die entweder wahr oder
falsch sein können; ihre Praxis bestünde darin, solche kleinen Wahrheitsaus-
sagen zu treffen oder entsprechende Wahrheitsaussagen zu falsifizieren. Aber
deshalb müsste niemand an die große Wahrheit glauben - daran, dass es so
etwas wie eine metaphysische Wahrheit gibt, sondern man könnte sich bei-
spielsweise mit der Feststellung begnügen, dass es nützlich oder lebensdien-
lich sei, zwischen wahren und falschen Aussagen unterscheiden zu können.
Ist moderne Wissenschaft tatsächlich noch von einem metaphysischen Wahr-
heitwillen beseelt, einem Glauben, der den Glauben an Gott substituiert? Oder,
aus einer anderen Richtung gefragt: Warum sollte Wissenschaft ein Ziel, einen
Zweck haben, der außerhalb ihrer selbst liegt, und sich nicht einfach als Praxis
verstehen, die ihren Zweck in sich selbst trägt, Selbstzweck ist? Ist die Frage
nach dem Wozu außerhalb, dem großen, jenseitigen Zweck nicht eine sehr
Schwindsüchtiger" (Petri 1861, 366). Julius Bahnsen spricht im zweiten, unter
N.s Büchern erhaltenen Band seines Werks Der Widerspruch im Wissen und
Wesen der Welt von der „bekannten Erregtheit der Hektiker" (Bahnsen 1882, 2,
111).
399, 2 f. diese „freien, sehr freien Geister"] Das ist ein doppeltes Selbstzitat,
nämlich zum einen aus der Vorrede von JGB, wo sich das „Wir" so bezeichnet
und überdies als „gute Europäer" tituliert (KSA 5, 13, 13, der Passus fehlte
zunächst im Druckmanuskript, vgl. NK KSA 5, 13, 11-16), zum anderen aus
JGB 44, wo die „Philosophen der Zukunft" so bezeichnet werden (KSA 5, 60,
22 f.), um sie zugleich von den „fälschlich [so] genannten ,freien Geister[n]"'
(KSA 5, 61, 7) zu unterscheiden. Die Fügung dient dort also jeweils der positi-
ven Charakterisierung, während sich das „Wir" in GM III 24 mit den „freien,
sehr freien Geistern" gerade nicht gemein machen will, weil sie noch an die
Wahrheit glauben: Es sind eben, entgegen ihrer Selbstbeschreibung, keine
wirklich freigewordenen Geister vgl. NK 399, 10-12. Die Anführungszeichen in
399, 2 f. zeigen das Zitat an und dienen zugleich der ironischen Distanzierung.
399, 10-12 Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben
noch an die Wahrheit...] Ein solcher Glaube an „die Wahrheit" als eine
metaphysische Wesenheit, wie er schon in FW Vorrede 4 nachdrücklich ver-
worfen wird (vgl. Kaufmann 2016, 83-98), mag unter den „Verneinenden und
Abseitigen von Heute", den „Unbedingten in Einem" (398, 25 f.) vorkommen.
Freilich unterbleibt in GM III 24 der Nachweis, dass Wissenschaft als spezifi-
sche Kulturpraxis auf einen solchen Glauben angewiesen ist. Man könnte argu-
mentieren, Wissenschaft wolle zwar Erkenntnis und orientiere sich an der Leit-
unterscheidung wahr/falsch, sei aber doch mit kleinen Wahrheiten beschäf-
tigt, mit Einzelerkenntnissen, „,petits faits"' (399, 34). Dann wäre sie ein
dynamisches System von ständig variierten Sätzen, die entweder wahr oder
falsch sein können; ihre Praxis bestünde darin, solche kleinen Wahrheitsaus-
sagen zu treffen oder entsprechende Wahrheitsaussagen zu falsifizieren. Aber
deshalb müsste niemand an die große Wahrheit glauben - daran, dass es so
etwas wie eine metaphysische Wahrheit gibt, sondern man könnte sich bei-
spielsweise mit der Feststellung begnügen, dass es nützlich oder lebensdien-
lich sei, zwischen wahren und falschen Aussagen unterscheiden zu können.
Ist moderne Wissenschaft tatsächlich noch von einem metaphysischen Wahr-
heitwillen beseelt, einem Glauben, der den Glauben an Gott substituiert? Oder,
aus einer anderen Richtung gefragt: Warum sollte Wissenschaft ein Ziel, einen
Zweck haben, der außerhalb ihrer selbst liegt, und sich nicht einfach als Praxis
verstehen, die ihren Zweck in sich selbst trägt, Selbstzweck ist? Ist die Frage
nach dem Wozu außerhalb, dem großen, jenseitigen Zweck nicht eine sehr