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Stellenkommentar GM III 25, KSA 5, S. 402-403 577

Wille zur Täuschung ist nicht universell verallgemeinerungsfähig: Im Tunnel-
oder Brückenbau beispielsweise dürfte auch das sprechende „Ich" eher dem
Willen zur Wahrheit sein Recht einzuräumen geneigt sein. Und wie steht es
mit der Selbstanwendung auf GM? Ist dieses Werk von einem künstlerischen
Willen zur Täuschung bestimmt oder eher von einem wissenschaftlichen Wil-
len zur Wahrheit? Am Ende soll wohl eine gesetzgebende Philosophie die Vor-
mundschaft sowohl über die Wissenschaft als auch über die Kunst überneh-
men.
402,32-403,3 so empfand es der Instinkt Plato's, dieses grössten Kunstfeindes,
den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze,
der ächte Antagonismus — dort der „Jenseitige" besten Willens, der grosse Ver-
leumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Na-
tur] In Platons Politeia wird dieser Konflikt ausgetragen: Die Dichter wie Hesi-
od und Homer verbreiten Lügengeschichten über die Götter und sollen deshalb
aus der Wächter-Erziehung ausgeschlossen bleiben (Buch II, 377d; Buch III,
388c-392c). Die Dichter lassen die Laster triumphieren (395d) und geben den
niederen Trieben Nahrung (400d). In Buch X verfällt Homer einer Fundamen-
talkritik, stellt er doch das, was ist, nicht in eigentlicher Gestalt - als Ideen -
dar, sondern verfertigt nur Abbilder der Abbilder (595a-607a). Bereits im Früh-
jahr 1870 notierte N.: „Plato's Feindseligkeit gegen die Kunst ist etwas sehr
Bedeutendes. Seine Lehrtendenz, der Weg zum Wahren durch das Wissen, hat
keinen größeren Feind als den schönen Schein." (NL 1870, KSA 7, 3[47], 74, 1-
3) Indem der Kunstfeind Platon als „der grosse Verleumder des Lebens" titu-
liert wird, erscheint er als Prototyp des am asketischen Ideal orientierten Philo-
sophen.
403, 3-6 Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist des-
halb die eigentlichste Künstler-Corruption, die es geben kann, leider eine der
allergewöhnlichsten: denn Nichts ist corruptibler, als ein Künstler.] GM III 5,
KSA 5, 344, 29-345, 11 hat hingegen argumentiert, die Künstler würden sich
ohnehin stets der jeweils dominierenden Macht dienstbar machen - das kann
dort, wie im Falle Wagners unter dem Einfluss Schopenhauers, sehr wohl auch
das Joch des asketischen Ideals sein. Die Künstler sind in GM III 5 dispositio-
nell immer schon korrumpiert.
403, 10 f. die Dialektik an Stelle des Instinktes] Das wird dann breit ausgeführt in
GD Das Problem des Sokrates 5-8, KSA 6, 69-71, vgl. NK 6/1, S. 275-280 u. ö.
403, 18 Übergewicht des Mandarinen] Zur chinesischen Gelehrten-Elite der so-
genannten Mandarine siehe NK KSA 5, 239, 27.
 
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