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580 Zur Genealogie der Moral

Ungefähren wiederzugeben, was hier und da in den Dialogen Platon's unwilli-
ge Mitunterredner meinen, wenn sie das Betragen des Sokrates in substantivi-
scher oder verbaler Form unter den Begriff des Eiron bringen" (Schmidt 1882,
2, 399 f., ausführlicher zitiert in NK KSA 5, 220, 30-221, 6 zu JGB 267). Der
Selbstverkleinerer par excellence ist also der Ironiker Sokrates, der sich herab-
setzt und damit scheinbar seine Gesprächspartner aufwertet, aber doch, weil
er ja nicht wirklich an deren Überlegenheit glaubt, zugleich zu verhöhnen
scheint (vgl. Schmidt 1882, 2, 400). Bereits NL 1883, KSA 10, 8[15], 338, 29 f.
hält sich weder mit Sokrates noch mit Aristoteles auf, sondern erachtet „Selbst-
verkleinerung" pauschal als ein „allgemeines Leiden der Modernen", wofür es
bei Schmidt keinerlei Anhaltspunkte gegeben hatte (vgl. ausführlich Brusotti
1992b, 120 f.). Die Diagnose kehrt nun in GM III 25 in dieser Allgemeinheit wie-
der, jetzt aber angereichert mit wissenschaftsgeschichtlichen Belegen, die in
einer gewissen Spannung zur Hybris stehen, die nach GM III 9 das moderne
Selbst- und Weltverhältnis auszeichne und die ebenfalls ihren Ausgang von
der Schmidt-Lektüre nehmen, vgl. NK 357, 17-34.
Auf 404, 12-18 wird gerne Bezug genommen in der Debatte um N.s angebli-
chen oder zweifelhaften Naturalismus, so bei Gardner 2009, 24. Dass der
Mensch ein Tier unter Tieren sei, ist zu N.s Zeit bereits evolutionstheoretisches
Gemeingut, vgl. z. B. NK KSA 6, 180, 3-9 u. NK 258, 13-19 sowie Sommer 2015g.
404, 18-20 Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gera-
then, — er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg — wohin?]
Dass die Menschheit von Kopernikus an in eine unaufhaltsame Dynamik der
Dezentrierung hineingeraten sei, ist ein Gedanke, der N. - im Anschluss an
Kants Idee einer Kopernikanischen Wende (diese Fügung hat Kant nicht be-
nutzt) in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (AA III,
7-10) - beispielsweise in Alfons Bilharz' Der heliocentrische Standpunct der
Weltbetrachtung begegnet ist, dort allerdings positiv gefasst als (Selbst-)Er-
kenntniszugewinn: „Wenn wir nun in Betracht ziehen, dass unser Subjectpunct
selbst eine cyclische Bewegung von der Wiege (Aphelium) zur Sonnenhöhe des
Daseins und von da bis zum Grab (wieder zum Aphelium zurück) durchmacht,
so dürfte es uns wirklich schwer werden, den wesentlichen Unterschied
eines erkennenden Individuums von einem im unendlichen Raum rotirenden
Weltkörper anzugeben. — Noch einmal wiederholt sich der Fall des Kopernikus
im strengsten Sinn. Während wir die Welt um unseren Mittelpunct des Selbst-
bewusstseins kreisen lassen, ist es gerade umgekehrt: der Objectpunct ist im
Brennpunct der Ellipse gelegen, um welchen wir kreisen, bald im Aphel, bald
im Perihel stehend (keimender Wunsch — Erfüllung desselben); und eben da-
durch kommen alle Widersprüche, alle ,Schlingen' in unser Erkennen, dass
wir, wie die Leute vor Kopernikus von der Erde, so von uns glauben, wir seien
 
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