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Stellenkommentar GM III 28, KSA 5, S. 409-410 599

Die Fügung „Gesetz des Lebens" kehrt im Spätwerk gelegentlich wieder, vgl.
NK KSA 6, 243, 27-33 u. NK KSA 6, 87, 22-29. Sie ist biblischen Ursprungs: Jesus
Sirach 17, 9: „Er [sc. Gott] hat sie [sc. die Menschen] gelehret, und ein Gesetz
des Lebens gegeben" (Die Bibel: Altes Testament 1818, 971).
410, 17 „patere legem, quam ipse tulisti"] Lateinisch: „ertrage das Gesetz, das
Du selbst erlassen hast". N. entnahm diese Sentenz Josef Kohlers Broschüre
Das chinesische Strafrecht: „Der Hauptgesetzgeber war der Minister Schang-
Yan g unter dem König Hiao (362-338 v. Chr.); er war ein Gesetzgeber, welcher
es wagte, mancher alten Gewohnheit entgegenzutreten trotz der ultraconserva-
tiven Strömung, welche sich gegen ihn erhob. Die Gesetze waren streng; das
Abhauen der Nase bestand als Strafe fort; wer einen Verräther nicht anzeigte,
wurde enthauptet, und wer einen Menschen /9/ ohne Ausweis beherbergte,
wurde verhaftet - diesem Gesetze unterlag der grosse Gesetzgeber selbst, als
er, flüchtig geworden und verfolgt, eine Unterkunft suchen wollte. Auch hier
hiess es, wie bei Poyet: patere legem, quam ipse tulisti." (Kohler 1886, 8 f.)
Gemeint ist der französische Kanzler Guillaume Poyet (1473-1548).
28.
GM III 28 nimmt den Sinnbegriff aus dem vorangehenden Abschnitt auf, wo
über den Daseinssinn des „Wir" gesprochen wurde, nämlich in sich das
„Problem" des „Willens zur Wahrheit" „zum Bewusstsein" zu bringen (410,
29 f.). Jetzt jedoch handelt es sich nicht mehr um das exklusive „Wir", dessen
„Sinn" als Philosophen womöglich sehr speziell ist, sondern um den Menschen
als solchen. „Sinn" und „Ziel" (411, 5 f.) werden eng verkoppelt und in der
Frage verdichtet: „,wozu Mensch überhaupt?"' (411, 6) Bisher habe man auf
diese Frage nur eine Antwort gehabt, nämlich die des asketischen Ideals, das
alles als „,Umsonst!'" (411, 9) verdächtigte. Der Mensch habe mit Ausnahme
des asketischen Ideals nie eine Sinnantwort gehabt, sondern vielmehr bestän-
dig am Sinnproblem gelitten. Auch sonst wird in GM III 28 dem menschlichen
Dasein - implizit mit Buddha und Schopenhauer - eine Dominanz des Leidens
attestiert. Aber nicht das Leiden sei das Problem, sondern die Sinnlosigkeit des
Leidens - dass man jenseits des asketischen Ideals nicht gewusst habe, wozu
man litt. Und das asketische Ideal hat nach GM III 28 virtuose Antworten gege-
ben, es hat die „Perspektive der Schuld" (411, 30) erfunden, aber die eigentli-
che Pointe bestand darin, das Wollen erhalten zu haben: „der Wille selbst
war gerettet" (412, 3). Der gerettete Wille ist freilich ein „Wille[.] zum
Nichts" (412, llf.): „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als
nicht wollen..." (412, 15 f.).
 
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