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Koenigsberger, Leo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung A, Mathematisch-physikalische Wissenschaften (1913, 8. Abhandlung): Die Mathematik, eine Geistes- oder Naturwissenschaft?: Festrede — Heidelberg, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.37350#0006
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6 (A. 8)

Leo Koenigsberger.

der ophthalmologischen Gesellschaft von Donders die erste
Graefe-Medaille überreicht wurde. Bescheiden und würdevoll
verglich er seine Verdienste um die Ophthalmologie durch die
Erfindung des Augenspiegels mit denen des Schmiedes, welcher
den ersten harten Meißel gefertigt, ohne den Phidias seine Kunst-
werke in Marmor nicht hätte schaffen können. Und wie hier die
Freunde und Schüler Graefes ihn geehrt, so ließ er Praxiteles,
Paeonios u. a. das Andenken ihres Meisters Phidias, welcher den
Schmied stets als den Urheber seiner großen Erfolge gerühmt,
dadurch feiern, daß sie in ihrer Bescheidenheit — „und bescheiden“,
sagt Helmholtz „sind alle hervorragenden Männer gerade in
Beziehung auf das, worin sie anderen höchst überlegen sind“ —
dem Schmied einen Kranz überreichten, zum Zeichen und Dank
dafür, daß er am meisten für die Kunst der Bildnerei getan.
Bei dieser Allegorie wollen wir einen Augenblick verweilen:
— Phidias im Besitze jenes Meißels, so wie wir von der Natur
ausgerüstet mit den verschiedenen geistigen Instrumenten, den
apriorischen Erkenntnisvermögen, diese leer und inhaltlos, so wie
jener Meißel an sich weder Form noch Inhalt schaffend. Dem
Marmorblock gegenübergestellt, wie wir den Erscheinungen der
Außen- und Innenwelt, wird er, wenn auch bereits im Besitze der
aus der Erfahrung entnommenen Begriffe von Zahl und Gestalt
den Meißel noch nicht dazu benutzen können, seine geniale
künstlerische Begabung in sichtbaren Schöpfungen zu betätigen.
Er wird sehr bald die Überzeugung gewinnen, daß er zunächst
Einsicht erlangen muß in den richtigen Gebrauch seiner eigenen
physischen Kräfte, um den Block nicht zu zerstören und für seine
Zwecke unbrauchbar zu machen; er wird erkennen, daß der Erfolg
seiner Arbeit wesentlich von der Farbe des Marmors, dessen
Sprödigkeit und anderen Eigenschaften des Materials abhängt,
und — wie es jeder Naturforscher in seinem eignen Wissensgebiete
tut — so wird auch er die Richtigkeit seiner Beobachtungen
durch neue Erfahrungen zu prüfen haben. Jetzt erst wird sich
Phidias die Frage auf drängen, wie er den Meißel zu brauchen habe,
damit die seinem Geiste vorschwebenden und in Marmor zu
fertigenden Götter- und Menschengestalten die Gesetze der Schön-
heit befriedigen. Und so wie unsere geistigen Instrumente von
Vernunft und Verstand nach den festen Normen des Denkens
geleitet werden, so konnte nunmehr der Meißel des Phidias, geführt
durch die festen Normen ästhetischen Fühlens, mit denen die
 
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