Das fränkische Gesicht. I.
(B. 2) 17
und syntaktische Eigenschaften. Jedoch, ist das Temperament
nicht reiner Persönlichkeitsbesitz ? Übernehmen Kinder auch
ein regionales Temperament?
26. Das Temperament jedes Menschen ist ein Kompromiß
oder wenn man lieber will eine Synthese aus Individualtempera-
ment (welches selber wieder sehr verwickelt aus Erbtemperament,
individueller Spontanentwicklung und praktischen Erlebniswir-
kungen sich aufbaut) und Konventionstemperament. Letzteres
ist ein künstliches Entwicklungsprodukt, richtiger: Ange-
wöhnungsprodukt, ausgehend von der Konventionsausdrucksform,
welche von irgendeiner Umwelt verlangt und gezüchtet wird, weil
sie in ihr üblich ist. Der im alemannischen Gebiet Aufwachsende
wächst unmerklich in die Wenigbewegtheit, Gebundenheit, Schwer-
fälligkeit der dort herrschenden Äußerungsmotorik hinein, wie eben
jeder noch plastische Mensch die Art seiner Umwelt „sich zu geben“
unmerklich annimmt. Steht aber sein Individualtemperament dem
entgegen, so stößt es an und reibt sich, bis es sich zureichend ab-
schleift oder seine Äußerungsgrade bewußt oder unbewußt mäßigt:
bis es mit dem regionalen Temperament einigermaßen nivelliert ist.
Gleiches gilt umgekehrt vom in fränkischem Bezirk Aufwachsenden
(wo etwa der Stille, Gemessene verhöhnt oder beargwöhnt und damit
zur Anpassung an lebhaftere Äußerungsformen gedrängt wird).
In infinitesimalen Steigerungen oder Dämpfungen findet so eine
zunächst rein motorische (mimische, sprachliche) Umformung statt.
Diese wirkt in ebenso infinitesimalen Summationen auf die Gefühls-
und überhaupt Erlebnisdynamik selber zurück; die Rückwirkung
des Ausdrucks auf seine seelischen Träger ist ja eine ganz elemen-
tare psychophysische Grundtatsache. Das Individualtemperament
unterwirft sich dem Konventionstemperament erst äußerlich, und
damit (beim plastischen Menschen) Schritt für Schritt auch inner-
lich, d. h. es ordnet sich ihm in einer Synthese ein, in der das
Konventionstemperament innerlich einen namhaften und äußer-
lich, im Ausdrucksleben, den überragenden Anteil darstellt. Auf
diesem Wege wird das Kind von Eltern, die in den Bereich eines
ihnen fremdartigen Regionaltemperaments übersiedeln, langsam
aber sicher zu dem neuen Regionaltemperament hin umgeformt.
Nach Äußerungsart (und Mundart) und in infinitesimaler Model-
lierung schließlich auch nach Erlebnisart wird aus dem Franken-
kind ein schwäbischer Typus, aus dem Alemannenkind ein frän-
kischer Typus entwickelt — wie nach allem Erörterten nun nicht
Sitzungsber. d. Heidelb. Akad., math.-naturw. Kl. B. 1921. 2. Abh.
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(B. 2) 17
und syntaktische Eigenschaften. Jedoch, ist das Temperament
nicht reiner Persönlichkeitsbesitz ? Übernehmen Kinder auch
ein regionales Temperament?
26. Das Temperament jedes Menschen ist ein Kompromiß
oder wenn man lieber will eine Synthese aus Individualtempera-
ment (welches selber wieder sehr verwickelt aus Erbtemperament,
individueller Spontanentwicklung und praktischen Erlebniswir-
kungen sich aufbaut) und Konventionstemperament. Letzteres
ist ein künstliches Entwicklungsprodukt, richtiger: Ange-
wöhnungsprodukt, ausgehend von der Konventionsausdrucksform,
welche von irgendeiner Umwelt verlangt und gezüchtet wird, weil
sie in ihr üblich ist. Der im alemannischen Gebiet Aufwachsende
wächst unmerklich in die Wenigbewegtheit, Gebundenheit, Schwer-
fälligkeit der dort herrschenden Äußerungsmotorik hinein, wie eben
jeder noch plastische Mensch die Art seiner Umwelt „sich zu geben“
unmerklich annimmt. Steht aber sein Individualtemperament dem
entgegen, so stößt es an und reibt sich, bis es sich zureichend ab-
schleift oder seine Äußerungsgrade bewußt oder unbewußt mäßigt:
bis es mit dem regionalen Temperament einigermaßen nivelliert ist.
Gleiches gilt umgekehrt vom in fränkischem Bezirk Aufwachsenden
(wo etwa der Stille, Gemessene verhöhnt oder beargwöhnt und damit
zur Anpassung an lebhaftere Äußerungsformen gedrängt wird).
In infinitesimalen Steigerungen oder Dämpfungen findet so eine
zunächst rein motorische (mimische, sprachliche) Umformung statt.
Diese wirkt in ebenso infinitesimalen Summationen auf die Gefühls-
und überhaupt Erlebnisdynamik selber zurück; die Rückwirkung
des Ausdrucks auf seine seelischen Träger ist ja eine ganz elemen-
tare psychophysische Grundtatsache. Das Individualtemperament
unterwirft sich dem Konventionstemperament erst äußerlich, und
damit (beim plastischen Menschen) Schritt für Schritt auch inner-
lich, d. h. es ordnet sich ihm in einer Synthese ein, in der das
Konventionstemperament innerlich einen namhaften und äußer-
lich, im Ausdrucksleben, den überragenden Anteil darstellt. Auf
diesem Wege wird das Kind von Eltern, die in den Bereich eines
ihnen fremdartigen Regionaltemperaments übersiedeln, langsam
aber sicher zu dem neuen Regionaltemperament hin umgeformt.
Nach Äußerungsart (und Mundart) und in infinitesimaler Model-
lierung schließlich auch nach Erlebnisart wird aus dem Franken-
kind ein schwäbischer Typus, aus dem Alemannenkind ein frän-
kischer Typus entwickelt — wie nach allem Erörterten nun nicht
Sitzungsber. d. Heidelb. Akad., math.-naturw. Kl. B. 1921. 2. Abh.
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