Metadaten

Bezold, Carl; Boll, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1911, 7. Abhandlung): Reflexe astrologischer Keilinschriften bei griechischen Schriftstellern — Heidelberg, 1911

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.32169#0053
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Reflexe astrol. Keilinsrfiriften bei griech. Schriftstellern.

53

Denn gerade diese Art von Texten — Lunare, Biitz-,
Donner-, Erdbebenbücher — sind mit wenigen anderen zusam-
men der eigentliche Inhalt jenes »gelehrten Aberglaubens«,
der trotz aller sonst sehr wirksamen Verfolgung der Astrologie
durch die Kirche auch in das lateinische Mittelalter sich rettet,
hier allmählich in die modernen Sprachen übergeht und so in die
tieferen Volksschichten herabsinkt, sodass er schliesslich den An-
schein zurückgebliebener bäuerlicher Weisheit erhält, der seinem
königlich-priesterlichen Ursprung doch so fern liegt. 1) Der Grund
für die ungemeineHartnäckigkeit, mit der man dieseUeberlieferung
festhält, liegt nun aber nicht etwa in ihrer suggestiven Kraft oder
gar in ihrem Zusammenhang mit irgendwelcher auch nur begin-
nenden Wissenschaft, sondern im Gegenteil ganz und gar in ihrer
durchaus primitiven und unmittelbaren Deutung von Vorgängen
am Himmel, deren Beobachtung nicht die mindeste wissenschaft-
liche Himmelskunde voraussetzt und zu allen Zeiten auch dem
völligen Laien, der Lust hat darauf zu achten, ohne weiteres
zugänglich ist. Die Astrologie, die sich uns in den Schriften

i) Vgl. die iehrreicben Arbeiten von Max Förster, Die Kleinliteratur des
Aberglaubens ini Altenglischen, Archiv für das Studium der neueren Sprachen,
Bd. CX (1895), S. 346 ff. und Beiträge zur mittelalterlichen Volkskunde, ebd.
Bd. CXX (1905), Ss. 43 ff. und 297 fr., CXXI (1906), S. 30 ff. und CXXV (1910),
S. 39 ff., die in den fiir uns in Betracht kommenden Teilen auch die lateinischen
Vorlagen neben deutsche und altenglische stellen und auf die griechischen Ur-
texte hinweisen. Es verschlägt wenig, dass namentlich auch der Wochentagsaber-
glaube und anderes der Art hier mit hereinspielt: uns interessiert vor allem die
Zähigkeit, mit der sich die alten Deutungen, die sozusagen technischen xönoi der
babylonischen Astrologie hier weitererhalten. Ganz so, wie in den alten baby-
lonischen Keilschrifttafeln das Eintreten von Sonnenflnsternissen nicht wissen-
schaftlich berechnet, sondern aus dem Ergebnis der Leberschau, aus der Licht-
stärke der Sonne und des Mondes und ähnlichem geweissagt wird, so erschliesst
das Gleiche, die drohende eclipsis solis, der Deutsche im 15. Jahrhundert aus
seinem Donnerbuch, und diese Weissagung einer kommenden Sonnenfinsternis
steht genau ebenso wie bei den Babyloniern parallel mit der Weissagung grossen
Sterbens (auch im besonderen der Frauen), Fruchtbarkeit und guter Ernte von viel
Korn und Wein, Regen, Streit unter den Leuten, Unruhen, Zorn Gottes, Krieg,
Einsturz von Städten, Hungersnot — kurz, alles das »sprechen die Sternseher« noch
zu dieser Zeit, was ihre babylonischen Kollegen iiber 2000 Jahre vorher an ihren
König berichtet haben. — Die Verdrängung der Astrologie durch die Kirche tritt
augenfällig in der geringen Zahl von älteren eigentlich astrologischen LIss. in latei-
nischer Sprache entgegen. Vom Beginn des arabischen Einflusses an aber wird
dieser Widerstand immer mehr zurückgedrängt, bis die Päpste selbst ihre Leib-
astrologen halten.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften