Studien zur Yorgeschichte des deutschen Volksnamens.
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ethnischen Lebens doch eben immer nur eine Idee ist. Was als
Tatsache gewußt wird, ist nicht die allemal unvordenkliche ein-
heitliche Erzeugung eines Volkes, sondern lediglich dessen ein-
heitliche Fortpflanzung im Wandel der letzten Generationen.
Ist daher zwischen ursprünglich verschiedenen Nationalitäten erst
einmal eine reale Lebensgemeinschaft von längerer Dauer und vor
allem natürlich eine wirkliche Vermischung durch Wechselheirat^
zustande gekommen, so kostet es der sagendichtenden Phantasie
keine Überwindung, das nämliche Verhältnis in idealer Projektion
auch auf die fernste Urvergangenheit zu übertragen^. Daneben
aber finden sich auch Belege dafür, daß auf eine solche Fiktion
ausdrücklich verzichtet ward; man räumt offen ein, daß eine gens
aus verschiedenartigen Elementen entstanden und erst im Laufe
geschichtlicher Entwicklung zu nationaler Einheit herangediehen
sei^. *
Zu leicht darf man sich indes diesen ganzen Vorgang der Hin-
gabe des partikularen Gentilbewußtseins zugunsten der ldee einer
umfassenden, auf die politische oder sonstige Lebensgemeinschaft'
gegründeten Nationalität durchaus nicht vorstellen. Jahrhunderte
lang erscheint die Reichsbildung innerhalb der ethnischen Welt
bloß als äußerliche AVrknüpfung mehrerer, in ihrem eigenen Wesen
beharrender gentes durch eine und dieselbe Herrsc.hafth Selbst
1 Bezeichnend ist, was Prokop (b. Goth. III, 2) in dieser Hinsicht von
den Rugiern berichtet. Er betrachtet sie noch als eigenes έ-&νος Γοτ&ίκόν, wie-
wohl sie, von Theoderich unterworfen, ais ostgotische Untertanen in Italien
leben. Da sie nämlich das Gonnubium mit den Goten oder anderen Fremden
praktisch vermieden, haben sie ihre gentile Selbständigkeit dennoch bewahrt
— τό τοϋ έ&νους ονομ<χ έν σφίσίν οίϋτοΐς §ίεσώσ<χντο — und können deshalb
sogar noch einmal versuchen, in der Person Erarichs dem Reich einen König
ihrer Nationalität zu geben.
2 Geht doch die fränkische Völkertafel, bei der freilich nur von Will-
kür, nicht von Dichtung die Rede sein kann, soweit, den Angehörigen des
Merovingerreiches, Romanen, Bretonen, Franken und Alemannen, die dabei
allerdings noch als besondere gentes anerkannt werden, ojnen gemeinsamen
Stammvater Istio überzuordnen; MürLENHOFF, Germ. antiqua 164.
s Jord. Get. 96: eam insulam gens Vividaria incolit; qui Vividarii ex
diversis nationibus ac si in unum asylum collecti sunt et gentem fecisse nos-
cuntur; cf. 36: ad litus Oceani A^idivarii resident, ex diversis nationibus ad-
gregati. — Ob sich die gens Alamannorum selbst mit Asinius Quadratus für
ξύγχλυδες κν&ρωποί χκΐ μίγάδες (Agath. I, 6) erklärt hat, muß freilich
dahingestellt bleiben.
^ Pluribus gentibus imperitantem, Tac. Ann. XII, 37 von Casatacus;
vgl. MoMMSEN, Röm. Gesch. V, 159.
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ethnischen Lebens doch eben immer nur eine Idee ist. Was als
Tatsache gewußt wird, ist nicht die allemal unvordenkliche ein-
heitliche Erzeugung eines Volkes, sondern lediglich dessen ein-
heitliche Fortpflanzung im Wandel der letzten Generationen.
Ist daher zwischen ursprünglich verschiedenen Nationalitäten erst
einmal eine reale Lebensgemeinschaft von längerer Dauer und vor
allem natürlich eine wirkliche Vermischung durch Wechselheirat^
zustande gekommen, so kostet es der sagendichtenden Phantasie
keine Überwindung, das nämliche Verhältnis in idealer Projektion
auch auf die fernste Urvergangenheit zu übertragen^. Daneben
aber finden sich auch Belege dafür, daß auf eine solche Fiktion
ausdrücklich verzichtet ward; man räumt offen ein, daß eine gens
aus verschiedenartigen Elementen entstanden und erst im Laufe
geschichtlicher Entwicklung zu nationaler Einheit herangediehen
sei^. *
Zu leicht darf man sich indes diesen ganzen Vorgang der Hin-
gabe des partikularen Gentilbewußtseins zugunsten der ldee einer
umfassenden, auf die politische oder sonstige Lebensgemeinschaft'
gegründeten Nationalität durchaus nicht vorstellen. Jahrhunderte
lang erscheint die Reichsbildung innerhalb der ethnischen Welt
bloß als äußerliche AVrknüpfung mehrerer, in ihrem eigenen Wesen
beharrender gentes durch eine und dieselbe Herrsc.hafth Selbst
1 Bezeichnend ist, was Prokop (b. Goth. III, 2) in dieser Hinsicht von
den Rugiern berichtet. Er betrachtet sie noch als eigenes έ-&νος Γοτ&ίκόν, wie-
wohl sie, von Theoderich unterworfen, ais ostgotische Untertanen in Italien
leben. Da sie nämlich das Gonnubium mit den Goten oder anderen Fremden
praktisch vermieden, haben sie ihre gentile Selbständigkeit dennoch bewahrt
— τό τοϋ έ&νους ονομ<χ έν σφίσίν οίϋτοΐς §ίεσώσ<χντο — und können deshalb
sogar noch einmal versuchen, in der Person Erarichs dem Reich einen König
ihrer Nationalität zu geben.
2 Geht doch die fränkische Völkertafel, bei der freilich nur von Will-
kür, nicht von Dichtung die Rede sein kann, soweit, den Angehörigen des
Merovingerreiches, Romanen, Bretonen, Franken und Alemannen, die dabei
allerdings noch als besondere gentes anerkannt werden, ojnen gemeinsamen
Stammvater Istio überzuordnen; MürLENHOFF, Germ. antiqua 164.
s Jord. Get. 96: eam insulam gens Vividaria incolit; qui Vividarii ex
diversis nationibus ac si in unum asylum collecti sunt et gentem fecisse nos-
cuntur; cf. 36: ad litus Oceani A^idivarii resident, ex diversis nationibus ad-
gregati. — Ob sich die gens Alamannorum selbst mit Asinius Quadratus für
ξύγχλυδες κν&ρωποί χκΐ μίγάδες (Agath. I, 6) erklärt hat, muß freilich
dahingestellt bleiben.
^ Pluribus gentibus imperitantem, Tac. Ann. XII, 37 von Casatacus;
vgl. MoMMSEN, Röm. Gesch. V, 159.