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Reitzenstein, Richard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 10. Abhandlung): Die Göttin Psyche in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37643#0053
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Die Göttin Psyche.

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sprüngliche, aus Licht bestehende Seiende gibt selbst die Erkennt-
nis der Teildinge, die aus ihm stammen; zu ihm muß die Seele Vor-
dringen, um glücklich zu werden. Der Schöpfer hat die Seele aus
Nichts geschaffen und ihr die Fähigkeit unmittelbarer und mittel-
barer Vorstellungen gegeben; mit den ersten erfaßt sie die unver-
gänglichen Ideen in der Welt der Vernunft, mit den zweiten die
Teildinge. Die Stufenfolge in der Welt ist: Erde, Wasser, Luft,
Feuer, die Himmelssphären und als letzte, feinste Substanz die
Substanz der Seele, die diese Welt umschließt und leitet, über
ihr weiter die Vernunft, die unmittelbar nach der Gottheit kommt
(Kap. I)1. Die Welt ist nicht arglistig, wie man meint, nur unbe-
ständig und voller Gegensätze; Lust und Leid wechseln unauf-
hörlich; die Art, wie die Seele sich ihnen jetzt hingibt, ist kindisch.
Gott hat sie in die Welt gesandt, sich wahres Wissen und Vernunft
zu erwerben, indem sie in der Betrachtung vom Vergänglichen
zum Unvergänglichen auf steigt. Dabei reinigt sie sich, umgibt
sich mit dem, was sie einst wesenhaft schauen durfte, und meidet
die Seelen verderbenden Dinge. So wird sie zu dem, was Gott aus
ihr machen will, und hört und versteht ohne Mittelsmann, was er
spricht (Kap. II). Die materielle Welt ist in beständigem Wechsel
und Kampf; sie steht in ihrem Wesen im Gegensatz zu der Seele
und verdirbt sie. Aus ihr stammt ein körperlich bedingter Seelen-
teil, den die Seele ertöten muß, um von den παθήματα und damit
von der άγνοια frei zu werden. Nur aus ihrem Ursprung kann sie
Kraft ziehen, wie die Pflanze nur aus der Wurzel. Sie muß zwischen
der materiellen Welt und der Welt der Vernunft wählen; erstere
bietet ihr nur Pein; also muß sie jede Liebe zu ihr in sich ertöten.
Durch Anschluß an ihren Ursprung wird sie hierzu die Stetigkeit
gewinnen (Kap. III). In der Welt der Materie sind Reines und
Unreines gemischt; nur aus der Welt der Vernunft kommt der
Seele unvermischte und fördernde Nahrung. Bildet sie die voll-
kommene Abneigung von der Materie in sich aus, so fällt alles
Schädigende fort; die Vernunft macht die Seele hell, die Materie
dunkel (Kap. IV). Die Vernunft ist das Bilden von Vorstellungen
und Anschauungen. Diese Tätigkeit bedeutet für die Seele das
Leben, der Sinnengenuß den Tod. In der Natur jedes Dinges liegt
1 Die durchaus intellektualistische Richtung der Schrift und Auffas-
sung der Seele hebt sie scharf von den früher betrachteten religiösen Schriften
ab. Sie erklärt einigermaßen, wie für die ψυχή die Achamoth oder σοφία bezw.
έν-8-ύμησις eintreten konnte.
 
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